Paderborn – Heiner Wortmann steht zwischen Ästen und Dachziegeln auf der Straße. Er blickt hoch zu den Dachdeckern, die gegenüber emsig ein abgedecktes Dach ausbessern.
„Ich bin entsetzt, so etwas habe ich noch nie erlebt. Das Haus ist gerade erst aufwendig saniert worden, nun ist alles wieder kaputt”, sagt der 82-Jährige am Samstagmittag im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Seit 60 Jahren lebt er mit seiner Frau im Wohngebiet entlang der Riemekestraße in Paderborn, wo das Unwetter am Freitagnachmittag gegen 17.15 Uhr durchgezogen war und große Zerstörungen hinterlassen hatte. Überall entwurzelte Bäume, abgedeckte Dächer, umgeknickte Zäune, zertrümmertes Glas - beschädigte Autos mit notdürftig mit Folie abgeklebten Scheiben stehen am Straßenrand.
Scherben und Äste zusammenkehren
„Ich habe als kleiner Junge miterlebt, wie das Arnsberger Viadukt bombardiert wurde”, sagt Wortmann, der aus dem Sauerland stammt. Das Viadukt war im März 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs durch alliierte Luftangriffe zerstört worden. „Jetzt war alles hier immer so friedlich. Wir haben uns sicher gefühlt. Dann so etwas hautnah mitzuerleben, das ist furchtbar”, meint Wortmann, dem fast die Tränen kommen.
Sein Haus, in dem er sich zum Zeitpunkt des Unwetters aufhielt, ist kaum betroffen. „Nur ein paar Dachpfannen”, sagt Wortmann und will nicht klagen: „Wenn ich etwas jünger wäre, würde ich selbst aufs Dach klettern und den Schaden reparieren.” Am meisten bekümmert sei er, dass im nahe gelegenen Riemekepark fast alle alten Bäume zerstört wurden. „Die waren zum Teil 150 Jahre alt.”
Weiter vorne in der Straße kehrt Michael Lohl vor seinem Haus Scherben und Äste zusammen. Sein dreijähriger Enkel Leo spielt mit dem Roller. „Wir waren gestern zu Hause. Unser Enkel war zu Besuch. Plötzlich wurde es stockdunkel, als der Tornado kam. Nach ungefähr einer Minute war alles vorbei. Unvorstellbar”, schildert er das Szenario. Dann habe er noch einem Verletzten geholfen, der vor seinem Haus gegen die Mauer geschleudert worden war. Auf der Rückseite sei ein Baum auf seine Terrasse gekracht.
Am Nachmittag machten sich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, Innenminister Herbert Reul und Bauministerin Ina Scharrenbach (alle CDU) in Paderborn und im ebenfalls betroffenen Lippstadt ein Bild von der Lage vor Ort. Wüst zeigte sich danach in Paderborn tief betroffen. „Es sind erschreckende Bilder, die man hier sieht. Ein enormes Ausmaß der Zerstörung. Und es ist ein kleines Wunder, dass Stand jetzt niemand zu Tode gekommen ist bei diesen großen Schäden”, sagt Wüst in der Paderstadt. „Unsere Gedanken sind bei den Verletzten, auch bei den Menschen, die ihr Zuhause verloren oder andere schwere Sachschäden erlitten haben.”
Der Landeschef dankte ausdrücklich den Einsatzkräften und Hunderten vom Helfern: „Ich bin sehr dankbar für das, was geleistet worden ist von gestern Nachmittag bis in die Nacht von den Einsatzkräften, auch von vielen Freiwilligen, die einfach mit anpacken.” Das Unglück zeige einmal mehr, „dass wir uns auf solche Extremwetterereignisse immer häufiger werden einrichten müssen”.
Schneise der Verwüstung
Mehr als 40 Menschen sind in Paderborn verletzt worden, darunter 13 schwer. Eine Frau schwebte nach einer Notoperation in Bielefeld am Samstag nach Behördenangaben noch in Lebensgefahr. Die 300 Meter breite und rund fünf Kilometer lange Schneise der Verwüstung quer durch die Großstadt ist noch sichtbar, obwohl am Samstag allerorten aufgeräumt, gehämmert und repariert wird.
„Es ist ein unvorstellbares Bild gewesen und ist es nach wie vor”, sagt Paderborns Bürgermeister Michael Dreier (CDU) bei einer Pressekonferenz in der Feuerwache Süd. Auch er berichtet von Bäumen und Ampeln, die wie Streichhölzer umgeknickt seien. Leitplanken, die wie Papierschnipsel durch die Luft flogen. Aufgewirbelte Dachziegel, die sich in Fassaden bohrten.
Entlang der Riemekestraße stehen viele Handwerkerautos. Das Wetter hat sich beruhigt, die Sonne scheint - es wirkt fast friedlich, aber betriebsam. Schaulustige sind nur wenige zu sehen. Feuerwehrmann Florian Brandt schickt seine Leute mal hierhin, mal dorthin. „Die Einsätze werden in der Leitstelle und im Stab koordiniert und priorisiert. Das Wichtigste ist immer zuerst die Menschenrettung. Dann müssen wir dafür sorgen, dass die Rettungswege freigeräumt werden. Etwas ähnliches habe ich mal nach einem Unwetter in Mülheim an der Ruhr gesehen”, sagt er. „Aber das hier ist noch schlimmer.”
Kurz, aber sehr heftig
In seinem Lotto- und Tabakgeschäft steht Wolfgang Hölscher hinter dem Tresen. Vor dem Laden türmt sich ein Berg von Ästen, Baumstammresten und anderen Trümmerteilen. Mit einem Bagger wird aufgeräumt, von einem Kran aus werden Dachschäden begutachtet. Am Laden-Eingang stehen ein paar Leute, die über das Geschehene reden, es immer nicht richtig fassen können.
Hölscher hatte am Freitag noch geöffnet, als der Sturm kam. Durch das Fenster des Geschäfts konnte der 64-Jährige alles beobachten. „Geregnet hat es kaum. Aber der Tornado war deutlich zu erkennen. Er sah so ähnlich aus wie ein Eishörnchen.” Dachziegel, Styroporteile, Äste und leichtere Teile von Zäunen seien nach oben gesaugt worden, beschreibt Hölscher, der genau weiß, wie lang es dauerte: „Um 17.14 Uhr ging es los. Nach einer Minute und 27 Sekunden war alles vorbei.”
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