Wladimir Kara-Mursa wurde erst vergiftet – und dann weggesperrt. Nun ruft er zum Wahlboykott auf. Das Kölner EL-DE-Haus spielt eine Rolle.
Brief aus sibirischer EinzelhaftKremlgegner will sich Putin mit Idee aus Köln widersetzen
Kremlkritiker Wladimir Kara-Mursa ruft seine Landsleute zum Boykott der Präsidentschaftswahl in Russland auf. Die Idee dazu geht auf einen Besuch im Kölner EL-DE-Haus und einen Stimmzettel aus den 1930er Jahren zurück.
Neben Alexej Nawalny gilt Wladimir Kara-Mursa als der profilierteste russische Oppositionspolitiker. Wie Nawalny sitzt der 42-Jährige derzeit in einem sibirischen Gefängnis, verurteilt, weil er Russlands Krieg gegen die Ukraine öffentlich kritisiert hat. In Wladimir Putins Russland nennt man das „Hochverrat“.
Es ist nicht die einzige Ähnlichkeit mit Nawalny: Auch Kara-Mursa wurde bereits vergiftet, zweimal. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB dürfte nach Recherchen von „Spiegel“ und den Investigativprojekten „Bellingcat“ und „The Insider“ seine Finger im Spiel gehabt haben, wie bei Nawalny.
Wladimir Kara-Mursa kritisiert Russlands Krieg – und sitzt dafür im Gefängnis
Als Kandidat in den Wahlkampf eingreifen kann Kara-Mursa nicht, der Kremlkritiker und Weggefährte des ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow sitzt im Hochsicherheitsgefängnis im sibirisch Omsk in Einzelhaft, 25 Jahre Strafkolonie lautet sein Urteil. Bis Ende Mai soll die Isolationshaft für den Politiker noch andauern.
Der russischen Zeitung „Novaya Gazeta“ hat Kara-Mursa nun einen Brief übermittelt – und seine Landsleute mit einer Erinnerung an das NS-Dokumentationszentrum in Köln zum Boykott der Wahlen in Russland aufgerufen.
„Vor vielen Jahren war ich im Kölner Museum des Nationalsozialismus, das sich in einem ehemaligen Gestapo-Gebäude befindet“, richtet sich Kara-Mursa in seinem Brief an sein Publikum, und erinnert sich an eine „große und sehr starke Ausstellung“ im Kölner EL-DE-Haus.
Kremlgegner Kara-Mursa erinnert sich an Besuch im Kölner EL-DE-Haus
„Ein Exponat hat einen besonderen Eindruck auf mich gemacht“, schreibt der politische Gefangene. „Es war ein Stimmzettel von einer der vielen ‚Volksabstimmungen‘ in den 30er Jahren über das Vertrauen in den Führer, auf dem jemand fein säuberlich ein Kreuz in die Spalte ‚Nein‘ gesetzt hatte“, erklärt Kara-Mursa.
„Ich habe mir das angeschaut und gedacht, dass dieser Mensch die Verbrechen, die Diktatoren so gerne im Namen des ‚ganzen Volkes‘ begehen, natürlich nicht verhindert hat, aber zumindest ein persönliches und bewusstes ‚Nein‘ dazu gesagt hat“, so der inhaftierte Kremlkritiker. „Und das ist bereits ein bürgerlicher Akt.“
Hoffnung auf einen Akt des Widerstands gegen Wladimir Putin
Einen solchen Akt des Widerstands erhofft sich Kara-Mursa nun von seinen Landsleuten. „Seit vielen Jahren hat es in unserem Land keine echten Wahlen mehr gegeben“, erklärt der Kremlkritiker. Seit der Jahrtausendwende seien „Wahlen“ in Russland lediglich eine „Inszenierung“, die der formalen Legitimation von Putins Regime im Kreml diene. Dennoch hätten die Russen jetzt die Gelegenheit, „ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, wie es jener Kölner in den 1930er Jahren tat“.
Während die Bereitschaft für öffentlichen Protest angesichts von Putins Diktatur und den Repressionen des Kremls in Russland gering sei, könne „jeder seinen Wahlzettel nehmen, alle Z-Kandidaten durchstreichen und ‚Nein‘ darauf schreiben“, führte Kara-Mursa aus.
Kara-Mursa benennt Russlands größten Fehler
Das „Z“ ist das Symbol des russischen Krieges gegen die Ukraine. Je mehr ungültige Stimmzettel es gebe, desto offensichtlicher würden die Propagandalügen des Kremls über eine angeblich „breite Unterstützung“ von Putins Kriegskurs in der russischen Bevölkerung.
Bald werde es in Russland Veränderungen geben, schreibt Kara-Mursa, „wirkliche Wahlen, ohne Anführungszeichen“. Doch dafür müsse Russland seinen größten Fehler beheben. „Die Weigerung, die Verbrechen der Sowjetzeit vollständig zu begreifen und zu verurteilen“, so der Oppositionelle.
„Wenn das Böse nicht bestraft wird, wird es zurückkehren“
Statt die Verbrechen aufzuarbeiten und jene zu bestrafen, die sie begangen haben, habe man auf eine „moralische Läuterung der Gesellschaft“, wie sie in anderen post-totalitären Ländern wie Deutschland oder Südafrika stattgefunden habe, verzichtet. Das räche sich nun, erklärt Kara-Mursa.
„Wenn das Böse nicht verstanden, verurteilt und bestraft wird, wird es zwangsläufig zurückkehren. Genau das haben wir in Russland nach dem Jahr 2000 erlebt“, analysiert der einstige enge Freund des verstorbenen US-Senators John McCain. „Wir dürfen diesen Fehler nicht wiederholen, wenn sich in unserem Land das nächste Mal die Gelegenheit für einen politischen Wandel bietet.“
„In Russland beginnt der Wandel, wenn man ihn am wenigsten erwartet“
Die Hoffnung auf ein besseres, demokratisches Russland hat Kara-Mursa offenbar nicht aufgegeben. Ernsthafte politische Veränderungen würden in Russland Mitte der 2020er Jahre beginnen, habe Boris Nemzow stets gesagt. Der russische Politiker war 2015 auf der Moskwa-Brücke mitten im Zentrum Moskaus erschossen worden. „Er lag mit seinen Vorhersagen und Einschätzungen selten falsch“, sagt Kara-Mursa.
„Manche werden sagen, das sei ein Wunschtraum“, fügt der Kremlkritiker an. „Aber in Russland beginnt der Wandel genau dann, wenn man ihn am wenigsten erwartet.“ Zehntausende ungültige Stimmzettel als Zeichen gegen Putin wären dabei ein erster, kleiner Schritt. So wie das ‚Nein‘ zu Adolf Hitler bei der Umfrage damals in Köln.
In Russland finden zwischen dem 15. und 17. März die Präsidentschaftswahlen statt. Kremlchef Wladimir Putin gilt dabei als konkurrenzlos. Ernsthafte Gegenkandidaten lässt der Kreml nicht zu. Oppositionelle Politiker, die offen gegen Putin antreten, werden meist mit vorgeschobenen Gründen von der Wahl ausgeschlossen, wie Wladimir Kara-Mursa und Alexej Nawalny inhaftiert oder wie Boris Nemzow ermordet. Bis heute ist die Tat nicht aufgeklärt.