Unsere Kinder wachsen in krisenhaften Zeiten auf. Psychiater Christoph Corell von der Charité stellt fest: Sie sind sehr resilient. Und er erklärt, was Heranwachsende belastet, wie sich die Pandemie ausgewirkt hat und wann Eltern hellhörig werden sollten.
Kinderpsychiater„Psychische Erkrankungen brechen hauptsächlich bis zum 25. Lebensjahr aus“
Herr Professor Correll, mit der Corona-Pandemie ist die Psyche unserer Jugend in den Blickpunkt gerückt. Zuletzt wies eine Expertenkommission des Fachmagazins „Lancet Psychiatry“ darauf hin, dass sich die psychische Gesundheit Heranwachsender in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit dramatisch verschlechtert habe. Wie geht es unseren Kindern und Jugendlichen hier in Deutschland?
Christoph Correll: Es wird keine Generation Covid geben, die meisten jungen Menschen werden resilient sein, sich anpassen können. Aber es gibt auch Verlierer, Menschen, die aus dieser und anderen Krisen schlechter hervorgehen als andere. Man muss wissen, dass psychische Erkrankungen hauptsächlich bis zum 25. Lebensjahr ausbrechen. Wenn man alle psychischen Erkrankungen zusammenfasst, dann brechen sie zu einem Drittel bis zum 14. Lebensjahr, zur Hälfte bis zum 18. und zu rund 62 Prozent bis zum 25. Lebensjahr aus. Also in vulnerablen Zeiten, wo es um das Erlangen von Meilensteinen geht, darum, sich selbst zu definieren, im Umfeld von Schule, von Ausbildung und natürlich auch im sozialen Miteinander. Und diese vulnerablen Phasen werden natürlich auch durch gesellschaftliche Strömungen und Entwicklungen beeinflusst. Zusätzliche Belastungen können da eine Gefährdung sein.
Die Lancet Psychiatrie-Kommission spricht von „gesellschaftlichen Megatrends“ wie etwa fehlenden Maßnahmen gegen den Klimawandel, unregulierten soziale Medien, abnehmendem sozialen Zusammenhalt oder der Polarisierung politischer Ansichten.
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Wir gehen bei psychischen genauso wie bei körperlichen Erkrankungen von einem Stress-Diathese-Modell aus. Das bedeutet, jeder kommt mit einer gewissen genetischen Ausstattung und Vulnerabilität auf die Welt, und Umgebungsfaktoren können das entweder abschwächen oder verstärken.
Ein Beispiel wäre: Jeder hat ein gewisses Risiko, Diabetes zu bekommen. Einige kriegen es nie, andere mit 80 Jahren, wieder andere mit 60. Aber wenn man noch mal zehn oder 20 Kilogramm zunimmt, dann ist die Bauchspeicheldrüse mehr belastet und man bekommt eventuell 20 Jahre früher Diabetes – oder wäre sonst verschont geblieben. Genauso ist das mit psychischen Erkrankungen.
Das Internet samt den sozialen Medien ist also möglicherweise ein Umgebungsfaktor, der das Auftreten von psychischen Erkrankungen verstärken kann?
Das kann sein. Etwa dadurch, dass es größere Reichweiten für Mobbing gibt oder vielleicht auch dafür, sich nicht so funktionales Verhalten abzugucken, wie Kalorien zählen oder sich schneiden. Auf der anderen Seite sind Medien aber eine absolute Ressource. In unserer COH-FIT-Studie waren die beiden wichtigsten Bewältigungsstrategien während der Pandemie sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen körperliche Bewegung und das Internet.
„Die wichtigsten Bewältigungsstrategien während der Pandemie waren körperliche Bewegung und das Internet“
Das Internet?
Ja, weil es das Tor zur Welt war. Es verbindet uns über die sozialen Medien mit anderen, wir können Informationen erlangen und durch die Welt reisen, obwohl wir körperlich nicht unterwegs sind. Bei Kindern unter zwölf Jahren war es nicht das Internet, sondern der persönliche Kontakt. Die müssen anfassen und kuscheln können. Da waren auch Haustiere wesentlich höher bewertet. Kinder brauchen eine warme Haut oder ein Fell.
Was beeinflusst die Psyche der Heranwachsenden aktuell noch besonders?
Richtungslosigkeit oder auch Hoffnungslosigkeit kann befördert werden, wenn Jugendliche und junge Erwachsene merken, dass die Gesellschaft insgesamt mit Belastungen auch nicht gut klarkommt. Das kann der Umgang mit dem Klimawandel sein oder die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen oder Einwanderern, die zunehmende Polarisierungen innerhalb der Gesellschaft oder natürlich Kriegsgeschehen.
Das sind alles Umgebungsfaktoren, die Druck erzeugen können, wie eben auch die Pandemie. Aber es ist nicht so, dass unsere Heranwachsenden nicht resilient wären. Das sind sie ganz überwiegend.
Inwiefern?
In der Pandemie gab es in den ersten zwei Jahren eine initiale Belastungssituation, da sind Angst, Depressionen oder Essstörungen, gerade bei Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren, deutlich angestiegen. Aber am Ende der Pandemie lagen die Mittelwerte wieder nahe den Normalwerten. Das verdeutlicht: Man kann aus Krisen auch lernen.
Die Lage hat sich also wieder stabilisiert?
Genau. Nicht bei den gleichen Menschen in der COH-FIT Studie, die jeweils nur einmal befragt wurden, aber im Mittel der Studien-Teilnehmer über die Zeit der Pandemie hinweg.
Insgesamt sind wir wieder auf dem Niveau wie vor der Pandemie. Aber es gibt eben Menschen und Subgruppen, die Verlierer der Pandemie oder auch der gesamtgesellschaftlich gestiegenen Belastungen sind. Das sind diejenigen, die schon vorher eine psychische oder körperliche Erkrankung hatten, die Migranten sind, die sozial schlechter gestellt sind und weniger Ressourcen haben.
„Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren sind anfälliger für Depressionen, Angst und Essstörungen“
Das bedeutet, wir können insgesamt gesellschaftlich ein Stück weit entwarnen, aber es gibt Gruppen, die weiter leiden. Laut eines Berichts der Krankenkasse DRK sind zum Beispiel Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren anfälliger für Depressionen, Angst und Essstörungen. Aber vielleicht suchen sie auch einfach öfter nach Hilfe.
Und andere suchen nicht danach, obwohl sie Hilfe bräuchten?
Die Zahlen beruhen auf Diagnosen, da tauchen natürlich immer nur die Inanspruchnahmen auf. Deshalb machen wir uns, das wird besonders im DRK-Bericht deutlich, große Sorgen, dass jene, die sozial schlechter gestellt sind, möglicherweise häufiger betroffen sind, aber seltener Hilfe suchen und damit auch seltener eine Krankheit diagnostiziert bekommen.
Wir befürchten, dass es zumindest Teile der Gesellschaft gibt, die wir nicht erfassen, weil sie entweder das Stigma der psychischen Erkrankungen nicht haben wollen oder nicht wissen, wie sie Ressourcen mobilisieren können, auch weil es im Moment zu wenig Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendpsychiater:innen gibt. Insofern ist dieses große, weltweite Alarmschlagen der Lancet-Psychiatrie-Kommission sicherlich dadurch motiviert, dass wir mehr Geld und Ressourcen brauchen, um die mentale Gesundheit der Jugend in Zeiten von Krisen zu stabilisieren und auch insgesamt zu verbessern.
Sie sagen, man könne aus Krisen lernen. Was konnten junge Menschen in der Pandemie lernen?
Dass das Leben kein Selbstbedienungsladen ist. Dass wir alle vulnerabel sind, nicht nur ein paar komische Leute, die sich depressiv fühlen. Diese Erfahrungen können uns weiser machen.
Wir sollten Krisen nicht immer nur als alarmistische Negativ-Formel des Lebens werten, sondern auch als Möglichkeit des Lernens sehen. Das soll nicht zynisch wirken, weil es natürlich Menschen gibt, die daraus nicht groß lernen können, die wenig Ressourcen haben. Diese Menschen müssen wir abholen, ihnen müssen wir Aufklärung bieten und Beratungs-Möglichkeiten.
„Grundlegend sind eine stützende Elternschaft“
Was können Eltern tun, um ihre Kinder in dieser auch nach der Pandemie insgesamt noch belastenden Gemengelage der heutigen Zeit zu schützen?
Eltern können viel machen, aber nicht allein. Da muss die Gesellschaft, da muss die Schule, da müssen Freunde, da müssen alle mitziehen. Es gibt aber ein grundlegendes Rüstzeug, das Eltern ihren Kindern an die Hand geben können. Letztlich ist stützende Elternschaft zusammengefasst „Vorbild und Liebe“, die wahrscheinlich der Sinn im Leben ist, oder auch Arbeit und Liebe, wie es Freud gesagt hat. Dazu gehört auch Freundschaft.
Was wir vorleben können, ist Transparenz. Drüber reden, offen sein dafür, befragt und hinterfragt zu werden, auch mal uns selbst hinterfragen, eigene Schwächen eingestehen und zeigen, dass uns dabei kein Zacken aus der Krone bricht. Jugendliche gehen oft nicht groß in die Kommunikation, das ist normal, sie müssen sich individuieren. Aber wir müssen dranbleiben, immer wieder das Gespräch anbieten, wachsam bleiben, ohne Helikoptereltern zu sein.
Wann sollten wir aufhorchen?
Wenn unsere Kinder nicht mehr gut schlafen, wenn sie sich Sorgen machen, weinen, keine Freunde mehr haben, ein sozialer Rückzug stattfindet, Schulschwierigkeiten auftreten. Dann sollten wir versuchen, zu verstehen, wo das herkommt. Nicht den Druck erhöhen, sondern Hilfe anbieten. Wenn wir das selbst nicht mehr leisten können, kann das auch externe Hilfe sein. Es können Trainer, Lehrer, Freundesgruppen einbezogen werden, oder es kann professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Wichtig ist, dass wir selbst auch ein Stück hoffnungsvoll sind, trotz aller Probleme. Wenn man negativ auf die Welt zugeht, dann färbt das ab. Wenn wir immer wieder versuchen, etwas Positives zu sehen, bringen wir es damit auch wieder selbst in die Welt.
Wie sieht es mit Sport aus? Schützt er vor psychischen Problemen?
Bewegung ist gut, genauso wie ausgewogenes Essen und genug Schlaf. Es muss kein athletischer Sport sein, es reicht auch, einfach nur mal rauszugehen, überhaupt seinen Körper zu spüren. Wenn wir mit unseren Kindern nicht gut reden können, dann können wir Dinge machen, auch das verbindet. Spazierengehen, zusammen Sport machen oder etwas spielen, das alles kann Nähe stiften. Die Währung von Liebe und Freundschaft ist Zeit. Aber gerade, wenn man selbst so absorbiert ist vom Alltag, wenn man gleichzeitig Beruf und Familie aufbaut, was ja leider in unserer Gesellschaft so parallel geschieht, dann fällt vielfach die Zeit hinten runter. Kinder und Jugendliche fordern die gemeinsame Zeit dann irgendwann nicht mehr ein. Deshalb müssen wir dranbleiben und Angebote machen, um weiter gemeinsame Schritte miteinander machen zu können.
Zur Person: Prof. Dr. med. Christoph U. Correll ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Charité in Berlin. Er ist zudem Professor für Psychiatrie und Molekularmedizin an der Donald and Barbara Zucker School of Medicine bei Hofstra/Northwell in New York.Corell ist Autor von mehr als 900 wissenschaftlichen Artikeln und Mitglied zahlreicher Expertengremien; er wurde national und international vielfach für seine Arbeit ausgezeichnet.
Corells Abteilung ist an der internationalen COH-FIT-Studie (Collaborative Outcomes study on Health and Functioning during Infection Times) beteiligt, einer großen Bevölkerungs-Umfrage in Ländern, die von der Coronavirus-Pandemie betroffen sind. Die Ergebnisse der Jugendkohorte sollen bald im „Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry“ veröffentlicht werden. An dem Projekt sind mehr als 230 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 35 Ländern beteiligt. Ziel ist es, Risiko- und Schutzfaktoren für die Prävention schlechter Outcomes bei möglichen zukünftigen Pandemien zu identifizieren.