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Neuanfang in Bad Münstereifel„Mama, werden wir jemals hier wieder leben können?“

Lesezeit 8 Minuten
Puthensinnen

Familie Puthen in ihrem zerstörten Haus: Marc, der älteste Sohn Jonathan und Sandra (v.l.) versuchen, Ordnung zu schaffen. Die jüngeren Söhne Mats und Fynn sind im Ferienlager.

Bad Münstereifel – Das Ehepaar Puthen sitzt an einem Biertisch im Zentrum von Bad Münstereifel. Es ist Sonntag. Vater Marc trägt Blaumann, Mutter Sandra eine rote Arbeiter-Latzhose. Sie essen Currywurst und Erbsensuppe, die ein Caterer aus einem Imbissmobil kostenlos ausgibt. „Das hier ist ein ganz besonderer Ort“, sagt Sandra Puthen. Für die Bevölkerung ist der Platz vor dem roten Rathaus in den vergangenen Wochen zum Krisenzentrum geworden.

Schon zwei Tage nach der Flut wurden von hier aus die freiwilligen Hilfskräfte aufgeteilt, die zu Hunderten in den Ort gekommen waren, um das durchnässte Hab und Gut aus den Häusern zu schleppen. Sie retteten liebgewordene Erinnerungen an ein ganzes Leben, schippten tonnenweise Schlamm, reparierten Stromleitungen. Vor allem aber sei dieser Platz der Ort gewesen, wo jeden Abend Emotionen aufeinandertrafen, sagt Sandra Puthen.

Beim gemeinsamen Bier sei geweint und gelacht worden, manche waren wütend, andere dankbar. Eine ganze Stadt fand hier nach der großen Flut Trost und Umarmung. Fremde wurden Freunde. „Hier hat sich die Unwucht im Herzen ausgedellt“, sagt Puthen. „Man spürte die Sehnsucht nach Menschlichkeit.“

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Wassermassen schießen durch das Stadttor

Drei Wochen ist es nun her, als das Wasser der Erft, die in nur acht Kilometern Entfernung entspringt und hier sonst nur wadentief ist, vor allem den historischen Kern von Bad Münstereifel in einen Ort der Zerstörung verwandelt hat. Puthens Sohn Jonathan, 21, Notfallsanitäter im zweiten Lehrjahr, zeigt Handyvideos der Nacht vom 14. auf den 15. Juli.

Wassermassen schießen durch das Stadttor, die Einkaufsstraße entlang, füllen die Erdgeschosse der Ladenlokale und umliegenden Häuser. Fenster bersten, Autos verschwinden in den Fluten oder schwimmen wie Spielzeug davon. Brücken stürzen ein. Am frühen Abend fällt der Strom aus.

Puthenaußen

Von außen wirkt das Haus der Puthens unbeschädigt.

Jonathan ist in dieser Nacht in seiner Wohnung in einer kleinen Seitenstraße im Ortskern. Seine Mutter, 51 Jahre alt und Kinesiologin, hat schon am frühen Nachmittag eine Ahnung, ein nicht zu erklärendes Gefühl, sagt sie, den Ort verlassen zu müssen.

Sie fährt in ein Café, parkt später noch den VW-Beetle um, bringt sich schließlich bei einer Freundin in Sicherheit. Vater Marc urlaubt mit den beiden anderen Söhnen, dem zehnjährigen Mats und dem 13-jährigen Fynn, am Lago Maggiore. Dass Bad Münstereifel unter Wasser steht, erfährt er recht schnell. Noch am Abend schickt ihm Sohn Jonathan per Messenger Flutvideos nach Italien. Kurze Zeit später bricht das Mobilfunknetz zusammen.

250 Millionen Euro Schaden – vorläufig

Auch wenn die Flut in Bad Münstereifel nicht ganz so viel Zerstörung hinterlassen hat wie im knapp 30 Kilometer entfernten Ahrtal, wo viele Dörfer nur noch Ruinen sind: Die Schäden sind auch hier beträchtlich. Fünf Menschen kamen in den Fluten ums Leben. Nach Angaben der Stadt beläuft sich allein der Schaden an der öffentlichen Infrastruktur auf rund 250 Millionen Euro. Doch es kommen weitere wirtschaftliche Einbußen dazu, die im Moment noch keiner genau beziffern kann. Seit einigen Jahren hat sich der Ort als Outlet-City einen Namen gemacht. Große Marken verkaufen in kleinen Läden Produkte zu vergünstigten Preisen, shoppen in historischer Fachwerkkulisse. Ein Wirtschaftsbooster für die klamme Gemeindekasse. Jetzt aber sind die Läden kaputt, der Konsumtourismus vorerst dahin.

BadmünstereifelRathaus

Das Rote Rathaus ist zum Krisenzentrum geworden.

Am 20. Juli, sechs Tage nach der Flut, kommt sogar Kanzlerin Angela Merkel nach Bad Münstereifel. Die Stadt sei „so schwer getroffen, dass es einem wirklich die Sprache verschlägt“, sagte sie nach einem Rundgang durch die Trümmer. Ministerpräsident Armin Laschet verspricht schnelle und unbürokratische Hilfe, Merkel, dass man die Menschen auch „nach Kurzem“ nicht vergessen werde. Die Puthens haben sich Merkels Ansprache nicht angeschaut.

Von außen nahezu unversehrt

Von außen sieht das Haus der Puthens nahezu unversehrt aus. Es steht nur etwa 50 Meter von der Einkaufsmeile entfernt in einem kleinen Gässchen. Davor blühen in Töpfen Hortensien, Flieder, Stockrosen und Geranien. Sandra Puthen will zeigen, dass das Leben wieder da ist. 250 Jahre alt ist das Haus, Fachwerk, zwei Etagen, viele Generationen überlebt. Seit 2008 wohnen die Puthens hier, Marc und Sandra sind im westfälischen Coesfeld aufgewachsen, Studium in Köln, dann in Bad Münstereifel gelandet. Kleine Gassen, gemütliche Atmosphäre. „Uns gefällt es hier.“

Marc Puthen öffnet die Haustür, drinnen sieht es verheerend aus. Das Wasser hat den Keller und das Erdgeschoss vollständig zerstört. Der Garten ist verwüstet, die Hecken sind verschwunden. Aus der angrenzenden Stadtmauer hat das Wasser ein gewaltiges Stück herausgebrochen. Im Kaminzimmer, Sandra Puthens Lieblingsraum, lehnen noch die Schaufeln, mit denen Sohn Jonathan bereits am Tag nach der Katastrophe mit einem Dutzend Kumpels den Schlamm rausgeschippt hat.

„Was die jungen Leute geleistet haben, ist unglaublich“

Gemeinsam haben sie die gesamte Etage von unbrauchbar gewordenen Möbeln befreit und mit Spitzhacken den nassen Lehm aus den Wänden geschlagen. Danach sind sie weiter zu anderen Familien gefahren, um zu helfen. Mehrere Tage hatte sich Jonathan frei genommen. Urlaub für die Gemeinschaft. „Was die jungen Leute geleistet haben, ist einfach unglaublich“, sagt der Vater. „Nicht nur bei uns, überall.“

Marc Puthen, 53, Glatze, runde Brille, warmes Lächeln, ist Arzt, Allgemeinmediziner in einer Gemeinschaftspraxis im Nachbarort Nettersheim. Seinen Arbeitsplatz hat das Wasser verschont. Er habe sich noch nie im Leben als Opfer gefühlt, sagt er. „Ich bin einfach nicht der Typ, der andere um Hilfe bittet.“ Das musste er jetzt lernen.

Das Gespräch mit der Versicherung endete mit einem Schock

Bereits am Tag nach der Flut hat Puthen noch von Italien aus den Versicherungsmakler angerufen. Das Gespräch verlief ernüchternd. Die Familie sei zwar gegen Diebstahl und Feuer versichert, aber mangels Gebäudeelementarversicherung leider nicht gegen Vulkanausbrüche, Erdbeben und eben Hochwasser, habe der Mann gesagt. Naja, habe sich Puthen da noch gedacht, wird schon alles nicht so schlimm sein. Dann der Schock: Auf etwa 150.000 Euro wurde der Schaden am Haus beziffert – ohne Inventar. „Da musste ich schon schlucken“, sagt er. Immerhin, für den Opel Insignia, die Familienkutsche der Puthens, gibt es von der Versicherung etwas Geld.

Etwa 3500 Anträge auf Soforthilfe wurden nach Angaben der Stadt bislang gestellt und auch bereits bearbeitet. In den meisten Fällen wurde das Geld bar ausgezahlt. Höchstbetrag sind 3500 Euro. Voraussetzung: Ein Schaden von mindestens 5000 Euro und keine Versicherung. Familie Puthen hat 3400 Euro bekommen. Ein paar Spenden. Ein Anfang. Außerdem hat die Bank einen Kredit über 50.000 Euro in Aussicht gestellt.

Die Tränen flossen aus Dankbarkeit

Am Morgen nach der Flut saß Sandra Puthen draußen auf einer Treppe vor der Haustür der Freundin, bei der sie untergekommen war, Eine Frau ging vorbei, sie unterhielten sich, am Ende wurde Puthen eine vorübergehende Unterkunft angeboten. Eine Ferienwohnung für zehn Tage. Kostenlos. Puthen fing an zu weinen – aus Dankbarkeit. Gerade erst hatte sie einen ersten Blick in ihr Haus geworfen. Das Ausmaß an Zerstörung war schlimmer als befürchtet. Aber sie weiß auch: Andere hat es viel schlimmer erwischt. Und sie ist kurz fast glücklich: „Jetzt konnte ich der aus Italien zurückkehrenden Familie einen Hafen zum Andocken bieten.“

Aus der ersten Bleibe ging es in die nächste. Eine Einliegerwohnung bei Bekannten, 35 Quadratmeter, nichts für lange. Bald kommen die beiden Jüngsten aus dem Feriencamp zurück, die Schule fängt wieder an. Auch das sei einer dieser bewegenden Geschichten, die während der Flutbewältigung geschrieben wurden, sagt Puthen. Zuerst hatte sich der Landessportbund Kinder betroffener Familien angenommen und war mit ihnen ins Sauerland gefahren. Kaum zurück, übernahm das Deutsche Rote Kreuz und nahm sie mit auf Rügen. Ganz unbürokratisch und kostenfrei.

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Auch die Söhne Mats und Fynn waren dabei. Das Wenige, was sie an Zerstörung miterleben mussten, hätten sie bislang gut verarbeitet. „Mama, werden wir jemals hier wieder leben können?“, habe sie der 10-Jährige gefragt. Dann nahm er die Spitzhacke und packte selbst mit an. „Das hat ihm gute getan“, sagt Mutter Sandra.

Raus aus der Zerrüttung, rein in den Kampfmodus

Geweint habe sie oft. Vor allem ganz am Anfang, als das Hochwasser noch wie ein surreales Ereignis im Gedächtnis spukte. Was ist jetzt zu tun, habe sie sich gefragt. Sie wollte helfen, konnte aber nicht. „Ich konnte keine Entscheidungen treffen, ich war völlig überfordert.“ Aus der Verzweiflung heraus zwang sich Puthen dann aber, die Perspektive zu ändern. Raus aus der Zerrüttung, rein in den Kampfmodus. Aufbruch. Vertrauen wiedergewinnen.

Der Aufenthalt in der Natur habe ihr geholfen, sich wieder geschützt zu fühlen. „Ich habe den Kindern erzählt, dass wir uns jetzt auf einer Abenteuerreise befinden. Wir reisen von Ort zu Ort. Mit kleinem Gepäck“, sagt Puthen. Überhaupt Gepäck: „Materielle Dinge sind am Ende ohne Bedeutung. Man braucht nur wenig, um im Leben klar zu kommen“, sagt Puthen.

Ganz wichtig: Oben auf dem Berg

Bevor es Winter wird, zieht die Familie vorübergehend in eine norwegische Blockhütte, 56 Quadratmeter groß und – ganz wichtig – oben auf dem Berg. Sandra Puthen weiß, dass sie sich dort wohlfühlen wird. Bei der ersten Besichtigung entdeckte sie im Regal ein Buch über ätherische Öle, mit denen sie selbst arbeitet. „Da war mir klar, hier sind wir richtig.“

Mindestens bis zum Frühjahr wird es dauern, bis die Schäden im Haus beseitigt sind, glaubt Marc Puthen. Ob die Familie dann überhaupt zurückwill, ist noch unklar. Vielleicht habe die Flut auch etwas Gutes, sagt Sandra Puthen. Sie fordere eine Entscheidung: Wo und wie soll es weitergehen?