„Massenerkrankung in der Fleischfabrik: Gefahr fürs ganze Land?“ lautete das Thema bei Frank Plasberg.
Zu Gast waren Karl-Josef Laumann (NRW-Gesundheitsminister), Christian von Boetticher (Bundesvereinigung der Ernährungsindustrie), Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne), Karl Lauterbach (SPD), Michael Bröcker (Journalist) und Peter Kossen (Pfarrer).
Was ist wohl das erstaunlichere Motiv beim Corona-Ausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik: Das Firmenlogo mit dem vergnügten Schlachtvieh oder die hinter Drahtzaun eingesperrten Tönnies-Mitarbeiter aus Rumänien, Polen und Bulgarien?
So richtig mag man sich immer noch nicht daran gewöhnen, wie schnell man derzeit in Deutschland in kollektive Schutzhaft genommen werden kann – und das mit freundlicher Unterstützung der Bundeswehr. Aber wie ernst die Lage nach über 1500 Infizierten im westfälischen Schlachtbetrieb sein muss, lässt sich wohl daran ablesen, dass selbst NRW-Landesvater und Lockerungs-Minister Armin Laschet ein „enormes Pandemie-Risiko“ beschwört. „Hart aber fair“-Moderator Frank Plasberg befürchtet gar eine „Gefahr fürs ganze Land“ und fragt in bester Boulevard-Manier, ob uns Tönnies den gerade erst wieder möglich gewordenen Sommerurlaub versaut.
Als Gäste hatte die Redaktion mit der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt, NRW-Superminister Karl-Josef Laumann (Gesundheit, Arbeit und Soziales) und der SPD-Kassandra Karl Lauterbach drei übliche Verdächtige geladen; Christian von Boetticher von der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie sollte wohl den Advokat des Teufels spielen, der Pfarrer Peter Kossen die „moderne Sklaverei“ in den Schlachthöfen aus eigener Anschauung anprangern und der Journalist Michael Bröcker für Hintergründiges sorgen.
Im Wesentlichen erfüllten die Gäste die Erwartungen. Zum Einstieg rätselte etwa Karl Lauterbach darüber, wie Armin Laschet zu der Annahme kommt, das Infektionsgeschehen sei klar lokalisierbar und damit unter Kontrolle. Für ihn ist der Kreis Gütersloh ein möglicher Infektionsherd für ganz Europa; damit wäre Rheda-Wiedenbrück ein potenzielles neues Ischgl - nur ohne Halligalli.
Lauterbach für lokalen Lockdown
Lauterbach plädierte für einen lokalen Lockdown und hätte den Betrieb bereits nach Auftauchen des Videos aus der dicht besetzten Tönnies-Werkskantine ausgesetzt. Wenn es so weiter gehe, befürchtet er, „wollen die Menschen mit Bürgern aus Gütersloh nichts mehr zu tun haben“. Sein Resümee: Es gibt kaum etwas, das so unsinnig ist, wie die Billigfleischproduktion.
Karl-Josef Laumann erläuterte zunächst ausführlich (und gegen Plasbergs hartnäckigen Widerstand), was die NRW-Landesregierung gerade alles Segensreiches zum Schutz der Bevölkerung unternimmt. Dann rühmte er sich (zu Recht) dafür, wie ein Löwe gegen die Missstände bei den Werkverträgen in der Fleischindustrie und anderen Bereichen gekämpft zu haben - nur leider vergeblich.
Die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder hatte die Leiharbeit reformiert, um Betrieben zu ermöglichen, Menschen für eine begrenzte Zeit einzustellen - etwa bei Produktionsspitzen. Allerdings hat sich daraus teilweise ein ausbeuterisches System entwickelt, in dem deutsche Sozialstandards und Arbeitsrechte mit Hilfe von Werkverträgen ausgehebelt werden. Durch den aktuellen Skandal hofft Laumann auf den nötigen Schub, um dies wieder abzuschaffen.
Werkverträge als „Segen“ für die Industrie
An dieser Stelle widersprach Christian von Boetticher vehement. Nach der rot-grünen Arbeitsmarktreform seien Werkverträge „ein Segen“ für die Industrie gewesen und hätten zudem „viele Menschen wieder in Arbeit gebracht“. Ein Werkvertrag sei nicht per se schädlich. Das Problem sieht der offizielle Vertreter der Lebensmittelindustrie eher darin, dass es in seiner Branche nur noch fünf große deutsche Handelsunternehmen gebe, die den Produzenten immer niedrigere Preise diktieren könnten. Obwohl von Boetticher persönlich in seinem Betrieb Müsli produziert, verteidigte er Tönnies leidenschaftlich. Man müsse erst mal die Bestandsaufnahme machen, bevor man einen Schuldigen für den Corona-Ausbruch benennt.
Geradezu aus der Fassung geriet von Boetticher, als der Pfarrer Peter Kossen die Arbeiter bei Tönnies „Sklaven“ nannten. Für Kossen ist die deutsche Fleischproduktion eine Form der „organisierten Kriminalität“ und trotz Mindestlohn auf Ausbeutung angelegt. „Es gibt viele Möglichkeiten, den Arbeitern das Geld wieder aus der Tasche zu ziehen“, so Kossen, und auch die Viehbauern können nicht davon leben, was ihnen die Industrie bezahle. Das billige Fleisch habe zudem nicht nur hohe Nebenkosten bei den Menschen, sondern auch für die Natur.
Auf Tönnies' Ankündigung, die Arbeitsbedingungen in seinen Betrieben zu verbessern, antwortete er: „Man kann mit der Mafia nicht die Mafia bekämpfen.“ Sein Resümee: Werkverträge müssen schnell verboten werden, denn man könne nicht so lange warten, bis die Leute umfallen, ob mit Corona oder ohne.
Grüne wollen Mindestpreis für Fleisch
Im Vergleich zu Kossen wirkte Katrin Göring-Eckardt beinahe so, als esse sie auch gerne mal ein blutiges Steak. Routiniert spulte die Grünen-Politikerin anfangs ihre Angriffe auf Schwarz-Rot im Bund und Schwarz-Gelb in NRW ab, dann plädierte sie für einen Mindestpreis für Fleisch. Corona wirke wie ein Brennglas auf die Dinge, die schon vorher nicht in Ordnung waren: „Fleisch ist zu billig, wir wollen die ganze Massentierhaltung nicht mehr.“
Michael Bröcker schließlich erklärte das System des in der Sendung ohnehin viel gescholtenen Tönnies vielleicht etwas vollmundig für beendet. Tönnies, so der Journalist, stehe beispielhaft für eine Industrie, in der menschenunwürdige Arbeitsbedingungen herrschen. Die Menschen wollten einen anderen Umgang mit den Tieren, der aktuelle Skandal sei der Fukushima-Moment der deutschen Fleischindustrie. Frank Plasberg blieb da skeptisch. Vermutlich hat er Recht und in ein zwei Monaten wird nicht mehr Tönnies, sondern wieder Billigwurst gegrillt.