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„Wie kann er noch im Amt sein?“Jörg Kachelmann wettert in Bad Münstereifel gegen Reul

Lesezeit 5 Minuten

Jörg Kachelmann hat in Bad Münstereifel eine Wetterstation installiert.

Bad Münstereifel-Kolvenbach – Neun Monate sind seit der Flutkatastrophe vergangen. Wetterexperte Jörg Kachelmann war von den Ereignissen rund um den 14. Juli 2021 nicht direkt betroffen. Dennoch wird er nicht müde, den Finger in die Wunde zu legen. „Ich weiß nicht, wie ein Innenminister nach so vielen Toten noch im Amt sein kann. Das ist mir schleierhaft“, sagt Kachelmann im Gespräch mit dieser Zeitung.

Auf Twitter ficht der 63-Jährige mit NRW-Innenminister Herbert Reul seit einiger Zeit ein Social-Media-Duell aus. Auf das Statement Reuls, dass man 153 Orte hätte evakuieren müssen, wenn man Kachelmanns Hinweisen gefolgt wäre, entgegnete der Wetterexperte: „Das haben wir nachweislich zu keinem Zeitpunkt gesagt oder suggeriert. Politiker, die immer lügen müssen, sollten keine Politiker sein.“

Jörg Kachelmann wettert gegen Justizministerium

In Rheinland-Pfalz werde gegen einen Feuerwehrmann ermittelt. „Das kommt dabei raus, wenn das Justizministerium der Staatsanwaltschaft sagt, gegen wen ermittelt werden soll“, so Kachelmann, der nun in Kolvenbach auf dem Bützler Hof eine Wetterstation eröffnet hat.

Alles zum Thema Herbert Reul

Dass die Wetterstation in Kolvenbach steht, hat mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags NRW zu tun. Der soll das Vorgehen der Landesregierung und ihrer Behörden und mögliche Versäumnisse im Zuge der Katastrophe aufarbeiten. Kachelmann war dort als Sachverständiger geladen. Unter anderem hatte der Schweizer am 13. Juli mittags in einem Tweet gewarnt, es werde „womöglich Zeit, Menschen allmählich behördlicherseits und medial auf ein Hochwasser-Szenario vorzubereiten“.

Bereich bei Bad Münstereifel wurde wettertechnisch nicht mehr erfasst

Am Rande der Anhörung sei er mit SPD-Landtagsmitglied Stefan Kämmerling ins Gespräch gekommen. Dabei sei es auch um eine Wetterstation bei Bad Münstereifel gegangen. Der Bereich wird laut Kachelmann seit einigen Jahren wettertechnisch nicht mehr erfasst, nachdem der 1891 installierte Niederschlagsmesser Ende 2020 abgebaut worden war.

Wetterexperte Jörg Kachelmann (l.) hat am Bützler Hof in Kolvenbach eine Wetterstation installiert. Dabei hat ihm unter anderem Landwirt Sebastian Bützler geholfen.

Kämmerling nutzte sein gutes Verhältnis zu seinem Parteifreund Thilo Waasem, der wiederum den Kontakt zu Landwirt Sebastian Bützler herstellte. Ein paar WhatsApp und Telefonate später sei alles in trockenen Tüchern gewesen, so SPD-Landtagskandidat Waasem. Und so steht die moderne Wetterstation, die unter anderem Temperatur, Luftdruck und Niederschlag misst, nun auf einer großen Weide oberhalb von Kolvenbach – fachgerecht in einer Höhe von zwei Metern und nicht auf Beton, der Wärme abstrahlen könnte, sondern auf Gras.

Landwirt aus Bad Münstereifel: „Da wusste ich, dass es in die Hose geht“

Kachelmann will im Mai noch ein Windmesser und eine Station, die die Bodenfeuchte misst, nach Kolvenbach bringen und installieren. Für Landwirt Bützler bietet die Anlage vor der eigenen Haustür einige Vorteile. „Wir haben noch eine Wetterstation in Sistig und eine in Lommersum. Wir in Kolvenbach sind topographisch aber mit beiden Orten nicht zu vergleichen. Entsprechend können wir mit den Daten nicht viel anfangen“, sagt der 39-Jährige. Und gerade beim Bodenfrost sei er auf die Daten vor der Haustür angewiesen, weil er beispielsweise Gülle nicht auf gefrorenen Boden aufbringen dürfe.

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Der Kolvenbacher hat nach eigenen Angaben gewusst, dass der 14. Juli 2021 kein normaler Tag werden würde. Als 2007 Gilsdorf überflutet wurde, habe es etwa 100 Liter pro Quadratmeter geregnet. „Da war das Regenrückhaltebecken in Eicherscheid schon voll. Da wusste ich, dass es in die Hose geht, weil 180 Liter angekündigt waren“, so Bützler.

Jörg Kachelmann: Man hätte immer wieder erklären müssen, dass „da etwas Wildes kommt“

Kachelmann wundert sich auch neun Monate nach der Katastrophe, dass niemand etwas unternommen habe. „Es war doch alles sonnenklar. Die Daten lagen ja vor“, so der Schweizer. Es hätte jemanden geben müssen, der am Sonntag, also am 11. Juli 2021, gewarnt hätte. Schon da sei klar gewesen, dass etwas Großes auf die Region zukomme. „Vielleicht wusste man noch nicht, dass es genau das Ahrtal wird, aber die Gegend hätte man gewusst“, so Kachelmann: „Man wusste, dass etwas kommt, was es seit Menschengedenken hier noch nicht gegeben hat.“

Das sagt Kachelmann zu den Rücktritten von Heinen-Esser und Spiegel

Zu den Rücktritten von NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) und Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (SPD), die zum Zeitpunkt der Flutkatastrophe rheinland-pfälzische Umweltministerin war, sagt Wetterexperte Jörg Kachelmann: „Es ist für die politische Kultur immer am besten, wenn PolitikerInnen für offensichtliches Fehlverhalten, durch das viele Menschen in Leid und Not gekommen sind, unmittelbar die Konsequenzen ziehen.“

Kachelmann weiter: „So könnte man immer die Zuversicht haben, dass beim nächsten Mal irgendwas anders sein wird. Diese Zuversicht fehlt mir allerdings völlig.“ (tom)

Aus seiner Sicht hätte ein Krisenstab eingerichtet werden müssen. Dieser hätte ab Sonntag ständig besetzt sein müssen. Für solche Fälle gebe es Feldbetten. „Man hätte beispielsweise vorbereiten können, dass Menschen evakuiert werden“, so der Wetterexperte: „Spätestens am Morgen des 14. Juli wusste man, dass die Wetterprognosen eintreffen werden. Zu diesem Zeitpunkt war auch klar, dass es das Ahrtal und die Eifel treffen wird.“ Daher hätten laut Kachelmann die Turnhallen vorbereitet sein müssen. Und nicht nur die: „Auch die Menschen hätten vorbereitet werden müssen.“ Und zwar intensiv. Man hätte ihnen immer wieder erklären müssen, dass „da etwas Wildes kommt.“

Es müsse jemanden geben, der genau so etwas tue – warnen, vorbereiten, Kräfte bündeln, Entscheidungen treffen. Kachelmann: „Meine Sorge ist, dass es bei technischen Maßnahmen bleibt. Es reicht nicht, Pegel neu zu berechnen. Was habe ich davon, wenn ein Pegel beim nächsten Mal bis zum bitteren Ende misst, aber wieder nichts passiert, niemand gewarnt wird.“