AboAbonnieren

WachkomaKlänge als Brücke zur Außenwelt

Lesezeit 6 Minuten
wachkoma-9

Musiktherapeutin Eva Lebertz legt die Gitarre auf den Körper des Wachkoma-Patienten.

Zülpich/Aachen – Es ist ein Moment, der alles verändert. Von einer Sekunde zur anderen ist nichts mehr wie es war – für einen selbst und für alle anderen. Bei Georg Habrich, den alle nur Stacho nennen, war es genauso. Es war ein intensiver, ein wilder Abend mit seinen Bandkollegen. Einer, der nun schon zehn Jahre zurückliegt. Und einer, der für Stacho und seine Familie alles verändert hat.

Der Profimusiker erlitt im Schlaf einen Herzstillstand. Wie lange das Herz nicht mehr schlug, weiß keiner genau. Jedenfalls verging bis zur Reanimation zu viel Zeit, um keine bleibenden Schäden zu hinterlassen. Seit einem Jahrzehnt ist Stacho Wachkoma-Patient. „Anfangs beugten sich noch ab und zu Ärzte über ihn, fuchtelten ihm vor den Augen herum. Doch weil sein Blick starr blieb, gingen sie nach einer Weile wieder weg“, erinnert sich seine Frau Ilka Habrich-Arntz. Bis heute weiß sie nicht genau, was in der Partynacht passiert ist – und will es auch nicht wissen: „Pfleger kamen und gingen. Sie baten ihn um ein Zeichen, ein Zwinkern, einen Händedruck. Irgendwann gaben sie auf. Diagnose: Ansprache sinnlos, niemand mehr da. Sie gaben ihm noch zwei Monate.“

Sie trauert jeden Tag

Doch ihren Mann aufgeben? Das ging und geht nicht. Mit Angehörigen und Freunden hat sie 2009 den Förderverein Musiktherapie für Menschen im Wachkoma (siehe „Der Verein“) gegründet. „Ich habe sehr schnell festgestellt, dass meinem Mann Musik guttut und er darauf reagiert, auch im Koma“, berichtet die stellvertretende Vorsitzende. Auf die Unterstützung der Ärzte habe sie nicht zählen können: „Die waren von der positiven Wirkung der Musik nicht überzeugt. Deshalb schmuggelte ich die Instrumente ins Krankenhaus.“

Alles zum Thema Zülpicher Straße in Köln

Seit acht Jahren pflegt sie ihren Mann, unterstützt von einem Pflegeteam, nun im eigenen Zuhause in Würselen. Einmal in der Woche fährt Musiktherapeutin Eva Lebertz von Zülpich nach Würselen, um für und mit Stacho Musik zu machen. Zwischen 30 und 45 Minuten dauert eine Therapiesitzung. Länger ist die Aufmerksamkeitsspanne des ehemaligen Bassisten nicht. Ist die Grenze erreicht, lässt er das die Zülpicherin spüren. „Mal dreht er den Kopf weg, mal macht er einen tiefen Seufzer“, berichtet Lebertz.

Vier Jahre hat sie in den Niederlanden Musiktherapie studiert. Als sie während eines Praktikums Ilka und Stacho kennenlernte, entschied sie, eine Fortbildung zur Fachtherapeutin für Wachkoma-Patienten zu machen. Eine Entscheidung, die sie nie bereut hat – im Gegenteil. „Mein Beruf erdet mich jeden Tag. Man lernt das Leben mehr zu lieben“, sagt die 33-Jährige. Sie könne nicht verstehen, wie man ernsthaft daran zweifeln könne, dass Menschen mit einem apallischen Syndrom, so der medizinische Begriff für den Zustand des Wachkomas, nicht auf Reize reagieren.„Wenn ich am Flügel nichts Rockiges spiele, beschwert er sich sofort im Rahmen seiner Möglichkeiten. Helene Fischer und Katja Eppstein findet er furchtbar“, sagt die Zülpicherin schmunzelnd. Die Musiktherapeutin greift während ihrer Therapiestunden den Atemrhythmus oder die Kaubewegungen des Patienten auf. Summen und die Entwicklung von Klängen erfolgt sehr einfühlsam. So entsteht langsam ein Kontakt.

„Mit den Mitteln der Musiktherapie ist es möglich, diesen Menschen ein Gefühl von Beziehung, Zugehörigkeit und Kontakt zur Welt zu vermitteln. Man baut eine Beziehung auf“, so Lebertz, deren jüngste Patienten erst vier Jahre alt ist.

Musiktherapie wird nicht von Krankenkassen übernommen

Seit zwei Jahren begleitet sie das Mädchen musikalisch. „Bevor sie beatmet wurde, habe ich mit einem Art Regenmacher in ihrem Atemrhythmus gespielt. Sie hat dann einfach mal die Luft angehalten und gelächelt, und ich habe sofort aufgehört zu spielen, um auf sie zu reagieren“, so die 33-Jährige.Sie ist heute sicher, dass das Mädchen das ganz bewusst gemacht hat: „Sie hatte begriffen, dass sie mit ihrer Atmung die Musik steuern kann und hat angefangen, damit zu spielen.“

Ihr persönliches Erfolgserlebnis sei eine junge Frau, die vor acht Jahren mit gerade einem 30 Jahren nach einem Treppensturz ein Jahr im Koma gelegen habe. Stück für Stück kämpfte sich die junge Frau zurück ins Leben. Am Anfang habe sie sich gegen die Musiktherapie gesträubt – wohl auch, weil sie vor ihrem Unfall leidenschaftlich gern Musik gemacht hat. „Als ich ihr dann eine Gitarre auf die Brust legen durfte, griff sie sofort einen Akkord. Mittlerweile singen wir gemeinsam Lieder. Was sie in acht Jahren geleistet, ist der Wahnsinn.“

Über die Erlebnisse und Erfahrungen als Musiktherapeutin könne sie ein Buch schreiben. Stattdessen mache sie aber lieber Musik für ihre Patienten. „Es ist sehr schade, dass die Musiktherapie nicht von den Krankenkassen übernommen wird“, ärgert sich die Zülpicherin. Ilka Habrich-Arntz fügt hinzu: „Menschen mit diesem Krankheitsbild leben am Rand der Gesellschaft und haben überhaupt keine Lobby.“ Sie versuche, mit ihrem Stacho ein halbwegs normales Leben zu führen. „Uns gibt es, so gut es geht, nur im Doppelpack“, sagt sie. Dazu gehöre auch der gemeinsame Besuch von Konzerten im Zülpicher Live-Proberaum: „Da geht es ja richtig rockig zu.“

Habrich-Arnzt fühlt sich allein gelassen

Denkt die Würselenerin an die Zeit vor zehn Jahren zurück, wird ihr Atem schwer und die Augen glasig. „Es wird so viel Zeit und Forschung in die Reanimation gesteckt, aber danach wird man allein gelassen“, sagt Habrich-Arnzt.Sie sei sehr froh darüber, dass ihr Mann lebe und ihr Leben weiterhin bereichere. Allerdings: „Wenn jemand stirbt, hat man die Trauer irgendwann verarbeitet. Mein Mann ist auf eine gewisse Art und Weise auch gestorben. Daran werde ich jeden Tag erinnert und trauere.“

Die Hoffnung aufgeben, dass es ihrem Stacho eines Tages wieder besser geht, will sie indes nicht. Ihr Leben habe sich schon mal von einem Moment auf den anderen geändert. „Warum nicht ein zweites Mal“, sagt sie.

„Zustand des Minimal möglichen Bewusstseins“

Für Mediziner ist der Begriff „Wachkoma“ ein Widerspruch. Das Wort Koma stammt aus dem Griechischen und bedeutet tiefe Ohnmacht. Der englische Sprachbegriff minimally conscious state – der Zustand des minimal möglichen Bewusstseins – dürfte zutreffender sein. „Apallisches Syndrom“ nennen Mediziner den Zustand zwischen der tiefen Bewusstlosigkeit (Koma) und dem bewussten Wachsein, wie Gesunde es erleben. Viele Patienten mit dem Krankheitsbild reagieren auf Reize ihrer Umwelt.Mit Gehirnstrommessungen kann dabei in einigen Fällen belegt werden, ob es sich bei der Reaktion um reine Reflexe handelt, oder ob der Patient äußere Reize in der Großhirnrinde, dem Zentrum des Bewusstsein und des Denkens, verarbeiten kann.Beim Wachkoma kann die betroffene Person nicht essen, nicht trinken und kaum bis gar nicht kommunizieren. Wie gesunde Menschen haben sie einen Schlafrhythmus. Viele Patienten erwachen niemals aus ihrem Dämmerschlaf. Etwa 3000 bis 5000 Menschen fallen in Deutschland jedes Jahr in ein Wachkoma. (tom)

Der Verein

Der Mann von Ilka Habrich-Arntz liegt seit zehn Jahren im Wachkoma. Weil sie merkte, dass der ehemalige Musiker auf Töne, Klänge und Geräusche reagierte, gründete sie den Förderverein Musiktherapie für Menschen im Wachkoma.

Der Verein finanziert nach eigenen Angaben aktuell die Musiktherapie von neun Patienten im Alter von vier bis 75 Jahren. „Wir können theoretisch Menschen in ganz Deutschland unterstützen. Dafür haben wir gerade die Satzung geändert“, berichtet Habrich-Arntz. Die Zülpicher Musiktherapeutin Eva Lebertz ist sicher, dass es auch im Kreis Euskirchen einen Bedarf für die besondere Behandlungsform gibt.

„Ich würde mich freuen, wenn sich Angehörige melden würden, und den Kontakt suchen. Musiktherapie fördert Wachkoma-Patienten“, sagt die Expertin.

www.musiktherapiehilft.de

www.dieva.net