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Zukunft im Rheinischen RevierMasterplan für Garzweiler See liegt vor – Umgestaltung bis 2070?

Lesezeit 5 Minuten
See Tagebau Garzweiler

Eine schwimmende Insel könnte mitten auf dem Tagebau-See Garzweiler entstehen.

Das Tempo, mit dem die Region den Zeitenwandel vorantreibt und die Renaturierung einer Mondlandschaft plant, ist atemberaubend.

Irgendwann – vielleicht um das Jahr 2080 herum – könnte es sein, dass ein Heimatforscher die digitalen Archive der Kommunen Erkelenz, Jüchen, Titz, Grevenbroich und Mönchengladbach, des Energiekonzerns RWE und des im Jahr 2026 eröffneten Dokumentationszentrums Garzweiler durchforstet. Weil er hofft, Antworten auf Fragen zu finden, die im Jahr 2025 nicht beantwortet werden können.

Die Region mit ihren 450.000 Menschen ist da nämlich noch vollauf damit beschäftigt, die Zukunft nach dem Abschalten des Wohlstandsmotors und Klimakillers Braunkohle voranzutreiben. Eine Frage könnte lauten: Wie haben es diese Menschen rund um den Tagebau Garzweiler emotional verkraftet, über einen so langen Zeitraum mit viel Enthusiasmus den zweitgrößten künstlichen See Deutschlands zu planen und auf blühende Landschaften zu hoffen, wohl wissend, dass die meisten von ihnen das nicht mehr erleben werden?

See Tagebau Garzweiler

So könnte die Ufer-Promenade von Jackerath Mitte der 2040er Jahre aussehen, wenn der See noch lange nicht komplett gefüllt ist.

Wie haben sie es geschafft, für fünf Dörfer, die über Jahrzehnte dem Tode geweiht schienen, ehe sie auf den letzten Metern doch noch von der Schaufel des Braunkohlebaggers hüpften, neue Namen zu suchen. Weil das alte, gerettete Kuckum nicht länger Kuckum heißen kann, wenn es das neue Kuckum schon gibt. Wie sollen Keyenberg, Oberwestrich, Unterwestrich und Berverath ab 1. Juli 2026 heißen? Mehr als 70 Vorschläge aus der Erkelenzer Bevölkerung sind schon eingegangen, am 14. Mai will der Stadtrat darüber abstimmen.

186 Seiten starker Masterplan nach nur einem Jahr Vorbereitung

Das Tempo, mit dem die Region den Zeitenwandel vorantreibt und die Renaturierung einer Mondlandschaft plant, ist atemberaubend. Gerade hat der Zweckverband, der den nüchternen Namen Landfolge Garzweiler trägt, einen 186 Seiten starken Masterplan zur Entwicklung des Garzweiler Sees verabschiedet. Nach nur einem Jahr Vorbereitung. Getrieben von der Tatsache, dass der Kohleausstieg im Rheinischen Revier nach dem Willen der Bundes- und der Landesregierung um acht Jahre auf 2030 vorgezogen werden soll. 

Selbst wenn sich das Ausstiegsdatum noch um drei Jahre auf 2033 verschieben sollte, weil die Versorgungssicherheit beim Strom wegen fehlender Gaskraftwerke so schnell nicht garantiert werden kann, ändert das nichts an dem kühnen Plan. Was sind schon drei Jahre Verzögerung? Wir sprechen von 2070 bis 2075, bis der See mit einer Fläche von 2200 Hektar und 165 Metern Tiefe vollgelaufen und die Infrastruktur fertiggestellt ist. Wenn der Rhein innerhalb von 40 Jahren so viel Wasser überhaupt hergeben kann, was Umweltschützer bezweifeln. Schließlich macht der Klimawandel auch an Deutschlands wichtigstem Fluss nicht halt.

Unser Ziel war es, einen gemeinsamen See für die gesamte Region zu gestalten
Harald Zillikens, Bürgermeister von Jüchen

„Unser Ziel war es, einen gemeinsamen See für die gesamte Region zu gestalten – über Grenzen von Städten, Gemeinden und Kreisen hinweg. Das ist gelungen“, sagt Verbandsvorsteher Harald Zillikens, der gleichzeitig Bürgermeister von Jüchen ist, einer Stadt, die ein Drittel ihrer ursprünglichen Fläche an den Tagebau abtreten musste.

Der See soll die Herzkammer des Strukturwandels weg von der Kohle hin zu einer neuen Wirtschaftsform werden, deren konkrete Projekte noch längst nicht ausgemacht sind. Es geht um „neue Formen des Arbeitens in Gewerbe- und Industrieparks, um klimaneutrale Fertigungsprozesse, agile Arbeitsmodelle, nachhaltige Mobilitätslösungen sowie ressourcenschonende Formen des Bauens.“ Das klingt eher schwammig, doch mehr kann man von einem Masterplan, von dem bis vor gut zwei Jahren noch alle glaubten, es sei ausreichend, ihn Mitte der 2030er Jahre vorzulegen, kaum erwarten. Das gilt beileibe nicht bloß für den Tagebau Garzweiler, sondern für das gesamte Rheinische Revier.

Die Politik verweist auf das  Leuchtturmprojekt Microsoft

Wenn von konkreten Ansiedlungen die Rede ist, verweist die Politik vor allem auf das Leuchtturmprojekt, mit dem sich viele Hoffnungen verbinden: die Milliarden-Investition von Microsoft in drei große KI-Rechenzentren. Sie sollen in Bergheim, Bedburg und wohl auch in Grevenbroich entstehen. Ihre Sogwirkung ist offenbar so groß, dass sich Bodo Middeldorf, Chef der Zukunftsagentur Rheinisches Revier, schon jetzt Gedanken darüber macht, wie man die vielen Fachkräfte in eine Region locken kann, deren Freizeitwert derzeit eher dürftig erscheint. Trotz ihrer Lage zwischen Köln, Düsseldorf und Aachen. Wer will schon sein gesamtes Berufsleben am Rande einer Mondlandschaft verbringen?

Womit wir wieder beim Garzweiler See wären. Bis 2200 Hektar Wasserfläche bei einer maximalen Tiefe von 165 Metern über die geplante Transportleitung, die von Dormagen über Grevenbroich bis zum Tagebau verlaufen wird, mit Rheinwasser gefüllt sind, wird man das Jahr 2066 schreiben. Sollte der Tagebau wie geplant tatsächlich 2030 stillgelegt werden, müssen zunächst die Uferbereiche und Böschungen befestigt werden, bevor der erste Liter Rheinwasser fließen kann. Fünf Jahre später könnte der See zur Hälfte gefüllt sein und erste Nutzungen ermöglichen. Wenn alles nach Plan läuft.

Neue Namen für fünf gerettete Dörfer gesucht

Doch bis Keyenberg oder wie immer es dann heißen mag, sich auch Seedorf nennen darf, werden auch danach noch Jahrzehnte ins Land ziehen. Es werde ein „stetiger Prozess der Wiederbelebung“ sein, bis der neue See um 2070 an die Dorfgrenze schwappt – und zwar nicht, um es zu fluten, sondern den Bewohnern einen Zugang zum Wasser zu bieten. Mit einer Böschungskante, die als Uferpromenade gestaltet ist und in nördlicher Richtung an einem Strand endet, während Richtung Süden ein landschaftlich gestalteter Ablauf zum Flüsschen Niers einen weiteren Blickfang bietet. Auch ein künstlicher See braucht einen Abfluss.

Vergleichbare Pläne enthält der Masterplan auch für Hochneukirch, das als Bade-, Wasser- und Kulturstandort mit einer großen Open-Air-Fläche auserkoren ist. Die häufigen Westwinde könnten den Ort in ein Surfer-Paradies verwandeln. Die Menschen in Holzweiler dürfen von einem Sporthafen mit schwimmenden Bauten träumen. Zum Zentrum für Freizeit und Tourismus haben die Planer Wanlo auserkoren, das zu Mönchengladbach gehört.

Ob das alles so kommt? „Unsere Aufgabe war es, einen möglichst ausgewogenen Konsens zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Menschen, der Natur und Umwelt sowie den Potenzialen für eine wirtschaftliche Inwertsetzung des Sees zu finden“, sagt Volker Mielchen Geschäftsführer des Zweckverbands. Im Jahr 2066 werden wir es wissen.