Bayers Vorsprung in der Fußball-Bundesliga scheint uneinholbar. Am Sonntag winkt der Titel. Doch ausflippen will in Leverkusen keiner. Der kommende Deutsche Meister übt sich in Bescheidenheit.
Bayer 04Eine Stadt in schwarz-rot – So fiebert Leverkusen der Meisterschaft entgegen
Nein. Zum Abheben ist ein Bayer-Fan nicht geboren. Das liegt nicht in seinen Genen. Und passt auch nicht zu einer Stadt, deren Hauptbahnhof „Mitte“ heißt und wo selbst dann kein ICE halten wird, sollte in der BayArena eines schönen Tages das Finale der Champions League ausgetragen werden. Aber dazu ist sie ohnehin viel zu klein. Zu Europapokalnächten in Leverkusen, das weiß man längst in Europa, kommt der Auswärtsfan grundsätzlich mit der S-Bahn oder - wenn es gut läuft - mit dem Regional-Express. Über Köln. Oder Düsseldorf. Und marschiert von „Mitte“ dort zu Fuß weiter Richtung Megastelze. Egal ob er aus London oder Madrid kommt. Königlich ist das nicht. Dafür real.
Der Bayer-Fan ist von Hause aus vorsichtig. Bescheiden und unprätentiös. Trotz eines Vorsprungs von 16 Punkten auf die Bayern und vor dem vermeintlich leichten Heimspiel am Sonntag gegen Werder Bremen. Das Wort Meister nimmt er auch in der Nacht zum Freitag nach dem 2:0 gegen West Ham United im Europapokal nicht in den Mund. Auch wenn gerade das 42. Spiel in Folge abgepfiffen wurden, das Bayer nicht verloren hat.
„Bayer 04 ist Wiesdorf“
Keine Banner, keine T-Shirts, nichts. An einer Bushaltestelle in Stadionnähe hängt ein Plakat mit dem Bayer-Maskottchen, das wohl einen Löwen darstellen soll, aber aussieht wie ein Teddybär. „Bayer 04 ist Wiesdorf. Freu Dich auf ein großes Familienfest am Rathausplatz. Am 20. April – von 11 bis 17 Uhr.“ Das Original tanzt zwei Stunden vor dem Anpfiff des Europapokalspiels etwas verloren vor der Tribüne herum.
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Sechs Matchbälle werde man wohl kaum vergeben. Aber ein Restrisiko bleibt. Auch wenn es im Promillebereich liegt. Man hat schon viel erlebt. Vorfeiern verbietet sich. „Dafür sind wir ein paarmal zu böse auf die Nase gefallen“, sagt Harald Kämpfer und gönnt sich ein frisches Kölsch. „Die Meisterschaft wird schon ein sehr besonderer Moment. Die Schale und dann vielleicht noch eine goldene Schüssel, wenn sie die ganze Saison unbesiegt bleiben.“
„So viele Wahrzeichen haben wir in Leverkusen ja nicht“
So eine Auszeichnung für denjenigen, der nie verliert, hat es in der Geschichte der Bundesliga noch nicht gegeben. England habe eine solche Trophäe. „Beim DFB denken sie wohl gerade darüber nach“, sagt Kämpfer. Er fände das super. „So viele Wahrzeichen haben wir in Leverkusen ja nicht.“ Eines der wenigen, das legendäre Bayer-Kreuz, wäre Anfang der 2000er Jahre um ein Haar abgerissen worden, hätten sich die Ultras nicht vehement zur Wehr gesetzt.
„Am Sonntag, wenn wir Bremen sehr wahrscheinlich schlagen werden, geht die Post ab“, sagt sein Kumpel Michael Stammen. Stammen hätte auch nichts dagegen, den Titel schon am Samstag auf dem Sofa mit freundlicher Unterstützung „unseres Erzrivalen“ zu holen. Sicher ist sicher. Gemeint ist der 1. FC Köln, der dazu bei den Bayern gewinnen müsste. Und Eintracht Frankfurt beim VfB Stuttgart.
Vizekusen, eine Krankheit, die am Sonntag geheilt werden könnte
So rechnen gebrannte Kinder. Vizekusener. Die so oft kurz vor dem Ziel gescheitert sind. Das ist das Unterhaching-Syndrom. Eine Krankheit, die am Sonntag geheilt werden könnte. Wichtig ist die Meisterschaft, egal wie. Auch auf dem Sofa kann die Post abgehen.
Wer, wenn nicht Gerd Wölwer, könnte besser erklären, was der erste Meistertitel für den Klub und die Stadt bedeutet. Auf seine Initiative ist am 25. November 1976 im Bayer-Clubhaus am alten Haberland-Stadion der erste Fanclub gegründet worden. Nach einer 0:1-Niederlage vor 500 Zuschauern in der 2. Bundesliga Nord bei Wacker 04 Berlin.
Das Motto: Je länger der Schal, desto größer die Liebe
Wölwer war damals 22 und schon zehn Jahre früher als „Pfadfinder mit selbstgemalten Bayer-Fähnchen“ zu den Heimspielen gegangen. „Wir waren damals froh, wenn Traditionsvereine wie Rot-Weiß Essen oder der Wuppertaler SV viele Zuschauer mitbrachten. Damit wir nicht immer den Kürzeren zogen, ist dann die Fanclub-Idee entstanden.“
Knapp 50 Jahre später treffen wir Gerd Wölwer, inzwischen 71 Jahre alt, in seinem Haus in Hitdorf. Über der Stuhllehne hängen seine alte Bayer-Kutte und der schwarz-rote Schal, gehäkelt nach dem Motto: Je länger der Schal, desto größer die Liebe. „Wir waren 60 bis 80 junge Leute, durften für die Gründungsversammlung das Clubhaus nutzen und bekamen Jahreskarten aus Pappe für die Heimspiele, die einzeln abgeknipst wurden.“
Wölwer, geboren in der Eifel und in Leverkusen aufgewachsen, sitzt seit 30 Jahren für die Grünen im Stadtrat, war ehrenamtlicher Bürgermeister, Dezernent für Umwelt und Planung im Rheinisch-Bergischen Kreis und hat alle Dramen miterlebt, die Bayer den Ruf als „Ewiger Zweiter“ einbrachten, vor allem die Saison 2001/2002, als die Mannschaft unter Klaus Toppmöller in der Meisterschaft nach einer Heimniederlage gegen Werder Bremen von Borussia Dortmund noch auf der Ziellinie abgefangen wurde, das Pokal-Endspiel gegen Schalke in Berlin und das Champions League-Finale gegen Real Madrid in Glasgow verlor. Zwei Jahre zuvor hatte die Werkself die Meisterschaft am letzten Spieltag in Unterhaching vergeigt.
Jetzt, da Bayer kurz vor dem Double, also dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft und des DFB-Pokals steht, müsse man als Fan hoffentlich zum letzten Mal mit allen Klischees aufräumen, sagt Wölwer. Die halten sich hartnäckig, wenn es um die Stadt und den Klub geht, obwohl man fußballerisch seit Jahren nahezu jede Saison im internationalen Geschäft mitmischt.
„Man unterstellt uns Defizite, wenn es ums Selbstbewusstsein geht und versucht, uns Begriffe wie Werkself und Vizekusen als Makel anzuheften“, sagt Wölwer. „Wir spielen Fußball seit 1904 und haben uns schon zu Oberliga-Zeiten mit Köln und Schalke gemessen.“ Das mag trotzig klingen, ist aber gar nicht so gemeint. Sondern eher das Erstaunen darüber, warum es so schwierig ist, das Image vom traditions- und seelenlosen Plastik- und Pillenklub in einer der vermeintlich hässlichsten Städte Deutschlands abzulegen.
Dabei ist Leverkusen seit den Aufstiegen von Hoffenheim und Heidenheim längst nicht mehr die kleinste Bundesligastadt, der Begriff Werkself samt Bayerkreuz ein Markenzeichen und Vizekusen wahrscheinlich schon ab Sonntag Geschichte.
Die ewige Frage nach dem Rathausbalkon
„Wir werden Deutscher Meister, lösen nach elf Jahren die Bayern ab und alle Welt fragt, wo wir das feiern wollen, nur weil unser Rathaus keinen Balkon hat“, wundert sich Wölwer. Als ob im Regelwerk der Deutschen Fußball-Liga das Nichtvorhandensein eines Balkons die Aberkennung des Titels oder zumindest das Ausweichen in ein meisterfeiertaugliches Rathaus zur Folge hätte. „Fußballspiele werden im Stadion gewonnen und nicht im Rathaus“, sagt Wölwer. „Im Stadion haben die Fans die Erfolge gefeiert und die Misserfolge erlitten. Die Meisterfeier gehört den Fans und nicht der Politik.“
Die ewigen Mäkeleien, Leverkusen habe keine Fußballtradition, lässt er an sich abprallen. „Ich sehe hier im Stadion regelmäßig attraktiven, auch internationalen Fußball und bin nicht gezwungen, irgendwelchen Erfolgen nachzuhängen, die weit in der Vergangenheit liegen. Auf Meistertitel in den 1970er Jahren könnte ich mir nichts einbilden.“ Diesen Seitenhieb auf den vermeintlich großen Nachbarn aus Köln kann Wölwer sich nicht verkneifen.
Bayer sei ein bedeutender Teil seines Lebens. „Ich habe spaßeshalber immer gesagt, dass ich nicht sterben will, bevor wir nicht Meister geworden sind. Das heißt jetzt nicht, dass ich am Montag sterben will. Aber ich muss das alles nicht mehr so verbissen sehen. Wir stellen die Schale in die Vitrine und dann ist für mich alles gut.“
Es ist nicht so, als habe Bayer noch nie etwas gewonnen. Der Sieg in den Uefa-Cup-Endspielen gegen Espanyol Barcelona 1988 unter Erich Ribbeck gilt - noch - als größter Erfolg in der Vereinsgeschichte. Fünf Jahre später holt Bayer den DFB-Pokal gegen die Amateure von Hertha BSC Berlin.
Das ist lange her und nicht zu vergleichen mit dem, was in dieser Saison möglich ist. Meisterschaft, Pokalsieg und der Gewinn der Europa League. Wohl auch deshalb wirken die Vorbereitungen auf die größte Fußballparty, die Leverkusen je gesehen hat, so sympathisch unbeholfen wie vor einem Abschlussball in der Tanzschule.
Der Stadt ist es eine Nachricht wert, dass vor dem Rathaus schon die Bayer-Flaggen wehen und Oberbürgermeister Uwe Richrath spricht davon, man werde die Stadt „in Schwarz und Rot herausputzen, wo es nur geht. Mit Fahnen vor dem Rathaus, auf den Balkonen und in den Gärten, mit Schals und Trikots“.
Der neue Deutsche Meister putzt sich heraus, während man in München schon erwogen hatte, für die nächste Dekade Meisterfeier-Dauerkarten für den Marienplatz zu vermarkten. Mit Mia-san-mia-Garantie.
Überstunden im Bürgerbüro für das Rückspiel in London
Für das Rückspiel in der Europa League bei West Ham United in London macht das Bürgerbüro Überstunden, um im Express-Verfahren Reisepässe auszustellen. Und der Wasserturm an der A1 wird bei allen noch anstehenden Heimspielen Rot leuchten.
Gerd Wölwer wird den Titel mit seinen Nachbarn in der Hitdorfer Rheinstraße feiern. Auch wenn da einige Fans von Fortuna Düsseldorf zu Hause sind. Seit Tagen versuche er schon, eine drei Meter hohe Hissfahne zu kriegen, erzählt er. Aussichtslos. Alle ausverkauft. Dann eben nächstes Jahr. Weil er sicher ist, dass Bayer den Bayern und Dortmund ab sofort langfristig Ärger machen wird. Und sei es nur, damit sich Leverkusen einmal im Jahr so richtig herausputzen kann. Immer im Mai. Das wäre ja noch schöner.