Der Politiker war in diesem Jahr omnipräsent: Es gab kein Entkommen vor ihm.
Dauergast bei Talkshows von Markus Lanz bis Hart aber fair. Corona, Feinstaub und die desolate Lage der Leverkusener SPD. Ein Rückblick.
Leverkusen – Vor ihm gibt es gegenwärtig kein Entkommen. Kaum ein Abend, an dem Karl Lauterbach nicht in einer Nachrichtensendung im Fernsehen auftaucht, in den Talkshows ist er der mit Abstand meistgesehene Gast des Jahres 2020, auf Facebook lässt er eine wachsende Fangemeinde mit Statements und der Auswertung wissenschaftlicher Studien betreuen, die Kurzversion gibt es auch auf Twitter und per Instagram. Und über all dem hat der umtriebige SPD-Bundestagsabgeordnete auch nicht seinen Wahlkreis Leverkusen / Köln-Mülheim vergessen, in dem er weiterhin mitmischt. Karl Lauterbach ist omnipräsent, das Krisenjahr 2020 war sein Jahr.
Wobei das anfangs noch ganz anders aussah. 2019 hatte er sich gemeinsam mit der norddeutschen Umweltpolitikerin Nina Scheer um den SPD-Parteivorsitz beworben. Dabei warb er vor allem für eine rasche Beendigung der Großen Koalition. Das Duo kam nur auf den vierten Platz, der Sieg ging bekanntlich an Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Dem früheren Finanzminister des Landes wurde die Unterstützung der NRW-Sozialdemokratie zuteil – und nicht Lauterbach.
Der hatte Opfer gebracht für die Kandidatur um den Vorsitz. Obschon immer wieder als potenzieller Gesundheitsminister gehandelt, hatte er den stellvertretenden Fraktionsvorsitz im Bundestag im parteiinternen Wahlkampf ebenso aufgegeben wie das Amt als gesundheitspolitischer Sprecher. Offiziell ist er in der Fraktion jetzt zuständig für Verbraucherschutz, für die Gesundheitspolitik spricht Bärbel Bas aus Duisburg. Schon mal gehört? Wohl kaum, denn Lauterbach füllt diesen Posten eigentlich immer noch aus, an ihm führt kein Weg vorbei.
Die (meist rote) Fliege, früher neben dem nasalen rheinischen Singsang in der Stimme das Markenzeichen des Professors, hat er inzwischen abgelegt, die eine oder andere selbstironische Bemerkung soll etwas Lockerheit einstreuen. Dabei geht es dem Mediziner um ganz ernsthafte Dinge: In der Pandemie ist er der Warner schlechthin, als Arzt und studierter Epidemiologe mit Lehraufträgen an der Universität zu Köln und der Harvard University in Cambridge/Massachusetts ist er voll im Stoff. „Mir fliegt das nicht zu, ich bin es gewohnt, mir alles hart zu erarbeiten“, berichtet er.
Wie selbstverständlich gehört es zu seinem Arbeitstag, sich spät in der Nacht – „dann kommen die frischen Studien in den USA heraus“ – in aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einzuarbeiten. Anderntags erscheint sein Fazit dazu bei Facebook und / oder er erklärt es abends bei Lanz, Plasberg, Maischberger, Will und wie sie alle heißen. Oder eben im Kanzleramt, in der Runde der Ministerpräsidenten, in Regierungskommissionen oder in Gesprächen mit den inzwischen zu Popstars avancierten deutschen Epidemiologen. Lauterbach ist ein fachliches Schwergewicht, ein gefragter und ernstgenommener Experte. Ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und Politik.
Sein Auftreten in der Krise zeigt Wirkung, gibt vielen Menschen Halt und Orientierung für das eigene Verhalten – oder führt zu allergischen Abstoßungen. Da mag es noch lustig sein, wenn im Netz Spötteleien über „Harry Potter und der Gefangene von Markus Lanz“ im Stil von Filmplakaten auftauchen. Die persönlichen Beleidigungen und expliziten Morddrohungen, denen sich Lauterbach inzwischen täglich ausgesetzt sieht, sind das keinesfalls. „Ich stelle inzwischen fast täglich Strafanzeige, bin laufend mit der Staatsanwaltschaft in Kontakt.“ Nicht nur böse Kommentare im Netz und Mails gehen ein, da wird ihm auch schon mal ein Strick ins Büro geschickt oder er wird im Zug zwischen Berlin und Köln angepöbelt und bedroht. Das Jahr 2020 hat vieles verändert.
Als „Alarmsirene der Nation“ sieht der Fachmann sich gescholten, als Rechthaber. Dabei hat er doch ständig Recht gehabt mit seinen Warnungen, meist Monate bevor die Situation eintrat: Das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen, die Erfordernisse eines Lockdowns, die Wirksamkeit des Maskentragens, die schwierige Lüftungssituation in Klassenzimmern, der Mangel an Klinikpersonal, die Langzeitfolgen einer Erkrankung, die zu erwartende zweite Welle, die Anlaufzeit bis zu einem Impfstoff, drohende Mutationen des Virus . . . Stets war er als Warner der Entwicklung voraus.
Dauerhafte Beschwerden
Das wollen viele nicht hören, nicht wahrhaben. Denen rät er, wirklich zu denken statt sich im „Querdenken“ zu versuchen und sich über die Situation in Intensivstationen zu informieren. Auch wenn das für viele nicht so einfach zu machen sein wird wie für ihn, der sich noch kurz vor den Weihnachtsfeiertagen im Klinikum umsah und als Arzt auch Zugriff auf die Akten der Corona-Patienten dort hatte. Lauterbach konnte sich wieder mal bestätigt fühlen: Selbst bei einem milden Verlauf einer Covid-19-Erkrankung könnten die körperlichen und seelischen Folgen zu dauerhaften Beeinträchtigungen führen.
Auch in seiner eigenen Partei vermag Lauterbach zu nerven. Seit 2005 hat er seinen Wahlkreis in Leverkusen und dem nordöstlichen Köln für die SPD gewonnen und will es im kommenden September erneut schaffen. Dennoch gab und gibt es in der Kölner SPD Widerwillen dagegen. Lauterbach lasse sich nicht einbinden, marschiere nicht mit der Partei, sondern habe immer einen eigenen Kopf. „Ein überaus schwieriger Mensch“, befindet ein Kölner Parteigenosse mit Einfluss. „Der Karl“ solle mehr für seinen Wahlkreis tun und weniger für seine TV-Präsenz.
In Leverkusen hat Lauterbach sich seit Jahren vehement für einen langen Autobahntunnel vom Bürgerbusch her unter dem Rhein hindurch bis Köln-Merkenich stark gemacht – mit der Bürgerliste von Erhard Schoofs und gegen seine Partei, die sich auf den Kompromiss „Tunnel statt Stelze“ für die A 1 festgelegt hat. Für Lauterbach ein „fauler Kompromiss“, weil ein so kurzer Trog die Abgasbelastung für die Autobahn-Anlieger in Leverkusen nicht wirklich verringere. Dazu gibt es einschlägige Studien, er kann sie zitieren. Sein Alleingang sorgte auch in der SPD Leverkusen für Unwillen, doch scheint an dem Mann der Stunde kein Weg vorbeizugehen, will die enorm schwächelnde Sozialdemokratie noch einmal eine Chance haben, den Abgeordneten zu stellen.
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Zumal die Leverkusener SPD intern genug Probleme zu lösen hat und seit einem halben Jahr ohne Vorsitzenden dasteht. In die Grabenkämpfe in der Partei, die über die Kommunalwahl hinweg zu einem Personalaustausch an der Fraktionsspitze im Rat führte, hat Lauterbach nach Vermittlungsversuchen und längerem Zusehen auch selbst eingegriffen. Nun rechnet Lauterbach mit der Unterstützung seiner Partei im Wahlkampf 2021. Damit auch das sein Jahr wird.
Dann muss nur seine Prognose eintreten, dass die Corona-Pandemie mit Hilfe von Impfstoffen ab Sommer 2021 in den Griff zu bekommen ist. Wobei er selbst auch dahinter noch ein Fragezeichen setzt. Es ist dicker geworden seit klar ist, dass die Impfoffensive nur sehr langsam Fahrt aufnehmen wird.