Welche Lehren sollte man aus dem 27. Juli 2021 ziehen? Antworten darauf gab es auf dem Rathausvorplatz in Leverkusen.
Zweiter JahrestagKritiker erheben nach der Leverkusener Chemie-Explosion Vorwürfe
Der zweite Jahrestag der Katastrophe am Sondermüllofen in Bürrig bot am Donnerstag nicht nur Anlass für eine Schweigeminute um 9.37 Uhr, dem Zeitpunkt der Alarmierung. In Bürrig versammelten sich Beschäftigte von Currenta ebenso wie am Gedenkort an der Hauptverwaltung im Chempark.
Für die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ und weitere Beobachter war der Tag Anlass für eine Bestandsaufnahme und Kritik. Kaum etwas übrig sei von der Einschätzung nach dem Unglück, bei dem sieben Menschen ihr Leben verloren und 31 verletzt wurden, dass „so etwas nie wieder passieren darf“ und „sich bei der Sondermüll-Verbrennung grundlegend etwas ändern muss“. Am Donnerstag zogen Vertreter der Kritiker-Organisation eine Zwischenbilanz.
Ein Brand und Sicherheitsmängel
Die fällt aus Sicht der „Coordination“ schlecht aus. Die havarierte Verbrennungsanlage sei auf dem Weg zum Normalbetrieb, die Bezirksregierung erlaube die Verbrennung von immer mehr Stoffen. Das, obwohl es am 5. Januar im Entsorgungszentrum wieder ein – so nennt das Currenta – „Brandereignis“ gab und es Behördenvertreter bei einer Inspektion, die auf eine anonyme Anzeige hin erfolgte, Sicherheitsmängel feststellten.
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Dass wieder so viel Abfall verbrannt wird, obwohl die Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft zur Explosion immer noch nicht abgeschlossen sind, stößt ebenfalls auf Kritik. „Die Zeichen stehen auf ‚Business as usual’. Die Currenta tut alles dafür, um aus der Entsorgung wieder ein lukratives Geschäftsfeld machen zu können. Und die Bezirksregierung unterstützt dieses Anliegen tatkräftig, obwohl das Profit-Streben die eigentliche Ursache für die Explosion vom 27. Juli 2021 darstellt“ sagt Marius Stelzmann, Sprecher der „Coordination“. Er argumentiert: „Bei einem geringeren Sondermüll-Aufkommen hätte es der Tanks, die an dem Tag hochgingen, gar nicht bedurft. Sie dienen nämlich nur als Zwischenlager für die Produktionsrückstände, welche die Currenta aus aller Herren Länder akquiriert hat.“
Jochum hat einen klaren Auftrag
Auch die Rolle des von Currenta engagierten Chemie-Sicherheitsexperten Christian Jochum und seines Teams wird von der „Coordination“ hinterfragt. Die Bezirksregierung verweis bei ihren Entscheidungen stets auf den Professor. Doch der hatte nicht den ganzen Explosionsfall zu prüfen, sondern vorzugsweise „unter welchen Bedingungen es verantwortet werden kann, die Anlage schrittweise wieder in Betrieb zu nehmen“, zitiert Stelzmann aus Jochums Arbeitsauftrag. Folglich lasse er sich „hauptsächlich von den ökonomischen Argumenten der Currenta sowie deren Großkunden wie Lanxess und Bayer leiten, die ihre Abfälle loswerden müssen“.
Als Beleg dient Stelzmann ein Jochum-Statement zu Currentas Wunsch, weitere Substanzen verbrennen zu dürfen. Dies sei nötig, um die Drehrohröfen besser auszulasten „und dem Entsorgungsauftrag nachzukommen“. Dabei nutzt der Betreiber die Chemikalien nur zur Feuerung. Dabei könnte er „dafür – noch dazu viel risikoloser – auch Heizöl nutzen, aber das ist teurer“, so der Kritiker.
Viel Geheimniskrämerei
Problematisch sei auch, dass Currenta zu den Stoffen keine detaillierten Angaben macht und dies mit dem Geschäftsgeheimnis begründet. Das, so Stelzmann, passe zum Gebaren, „die Öffentlichkeit insgesamt bei dem ganzen Wiederanlauf-Prozess außen vor“ zu lassen – „abgesehen von der Alibi-Veranstaltung Begleitkreis“.
Angelo Deckert, der am „Begleitkreis Bürrig“ teilnimmt, wies darauf hin, dass die von Currenta herausgestellte bessere Eingangskontrolle des Sondermülls nicht für alle Stoffe gelte: Einige Substanzen könnten „wegen des Arbeitsschutzes“ gar nicht am Eingang der Verbrennungsanlage unter die Lupe genommen werden. In diesen Fällen überlasse man die Begutachtung des Abfalls dessen Erzeuger.
Benedikt Rees von der Klimaliste äußerte Bedenken, dass die Bezirksregierung bei den Genehmigungen, die Anlage Stück für Stück wieder anzufahren, streng genug vorgehe. Deshalb habe er um Einsicht in die behördlichen Bescheide gebeten – „darauf warten wir seit bald einem halben Jahr“.
Die Coordination gegen Bayer-Gefahren hält den Umgang mit der Chemie-Katastrophe insgesamt für „völlig unangemessen“. Sie fordert ein Ende der lukrativen Müll-Geschäfte, strengere Abstandregelungen Wohngebiete betreffend, eine öffentliche Beteiligung bei allen größeren Änderungen der Betriebsabläufe, eine Verschärfung der Sicherheitsauflagen, engmaschigere Kontrollen und eine Entschädigung der Opfer beziehungsweise deren Hinterbliebenen.