Leverkusen – Die Wucht dieser Ausstellung trifft einen schon im ersten Raum: Zwei riesige Leinwände stehen dort. Und zu sehen sind auf ihnen im steten Wechsel: Straßen. Nichts als Straßen. Und sie alle angeordnet in einem Prozess des mehr und mehr einsetzenden, visuellen Crescendos: Zu Beginn sind es noch Landstraßen Highways, die den amerikanischen Kontinent romantisch-kitschig-klischeehaft durchschneiden als gerade Linien, die sich im Horizont oder gewaltigen Bergmassiven scheinbar verlieren.
Am Ende schlagen die Beton-Monolithen von urbanen Großstadtadern in LA und anderswo auf gleichsam genial wie megalomanisch konstruierten Stelzen wie optische Wellen über einem zusammen und man ist schon geplättet, fertig, überrollt ehe es so richtig angefangen hat mit „Von Straßen, Highways und Datenströmen“ als der neuen Ausstellung um Museum.
Aktueller denn je
Aber das ist genau genommen ein gutes Zeichen. Das bestmögliche überhaupt, denn: Es bedeutet, dass nichts an dieser Schau, die Kunstwerke gefühlt aller Genres von 19 Künstlerinnen und Künstlern versammelt, auch nur im Ansatz egal wäre. Im Gegenteil: Kunst könnte nicht aktueller, nicht mehr auf der Höhe der Zeit, eben nicht zeitgenössischer sein als wie sie nun in Morsbroich präsentiert wird.
Denn Straßen sind das Thema schlechthin. Egal, ob es sich um die aus Beton dreht, die früher ein Zeichen von Fortschritt und Verbundenheit waren und heute verteufelt werden als Totengräber der Natur – ganz nach dem Motto: Wer Straßen sät, der wird Verkehr ernten. Und wer Verkehr erntet, der zerstört alles andere.
Oder ob die aus Kabeln im Fokus stehen. Die Datenstraßen des Internets, die Kontinente verbinden und einen wuchernden Technologie-Moloch erschufen, der viel Gutes aber auch verdammt viel Schlimmes in die Welt bringt. Straßen faszinieren. Und sie stoßen ab. Sie sind lebensnotwendig. Und sie werden derzeit auch hierzulande durch immer mehr Mobilitätskonzepte und ein steigendes Umweltgewissen gebrandmarkt, aufgegeben, zurückgebaut.
Oder eben nicht. Wer wüsste das besser als die Leverkusener, in deren Stadt diese Ausstellung gezeigt wird und deren Trauma die Straße ist. Die Stelze. Aktuell mehr als je zuvor: Marode Rheinbrücke, teurer Neubau, Ausbau der Stelze durch die Stadt anstatt Tunnel, noch mehr Verkehr, noch mehr Beton. Aufgedrückt von der Politik. Eine Stadt im Schraubstock der Autobahnen. Kein Wunder und ein kluger Schachzug der Ausstellungskuratorin Heide Häusler und ihres Kollegen Fritz Emslander als kommissarischer Direktor des Museums ist es, dass die „Causa Leverkusen“ sich neben all den anderen, internationalen Kunstwerken und Statements der Kreativen aus aller Welt immer wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht.
Zwischendurch sind in den Räumen und auf den kleinen Fluren des Hauses alte Bilder aus Leverkusen zu sehen (einige von Fotografen des „Leverkusener Anzeiger“), alte Filme aus der Zeit, in der im Wort-Duo „Autobahnstadt Leverkusen“ noch beinahe kosmopolitischer Stolz mitschwang.
Leverkusen ist dabei, während drumherum Kathy Pendergast aus geschwärzten Atlanten alle Zeichen bis auf die Ortspunkte getilgt hat, die jetzt an Sternenbilder erinnern. Wenn ein Video über fünf Stunden und im Schnelldurchlauf einmal eine Fahrt über die „Route 66“ als Mutter aller Straßen zeigt. Wenn Bilder aus Norditalien Zeugnis ablegen, wie rücksichtslos und hässlich und doch irgendwie faszinierend ästhetisch in Norditalien Hochbahnen nur wenige Meter an Häusern vorbeiführen und die Wohn-Architektur durchschneiden, verstümmeln, kappen. Wenn Fotos aus Computerserver-Räumen den Blick auf Meter um Meter um Meter von Kabeln freigeben. Wenn Landkarten offenbaren, wo die elektronischen Datenströme in Internet-Highways auf dem Meeresboden verlaufen.
Legt Finger in Wunde
Die faszinierenden und perversen Konsequenzen des menschlichen Dranges, von A nach B zu gelangen, lauern überall im Museum und machen diese Ausstellung zur besten seit Jahren in Morsbroich – weil sie in ihrer Dringlichkeit sowohl schockiert als auch mitreißt. Weil sie für jeden verständlich ist. Weil sie mit Kunst den Finger in eine der größten Wunden der Gesellschaft legt und dem Betrachter zeigt, welch Genialität und welchen Irrsinn seine Spezies mitunter walten lässt.
Jammerschade, dass die Ausstellung aufgrund der Pandemie wohl erst im neuen Jahr besucht werden darf. Immerhin: Eröffnet wird „Von Straßen, Highway und Datenströmen“ am Sonntag, 6. Dezember.
Um die Menschen bis zur Öffnung des Museums nach dem Lockdown dennoch an der Ausstellung teilhaben zu lassen, werden auf den Internetseite des Museums ab Sonntag in regelmäßigen Abständen Fotos eingestellt und Podcasts zum Thema oder einzelnen Unterthemen der Schau angeboten. Im neuen Jahr sind dann mehrere Künstlergespräche vor Ort geplant – darunter auch eines, an dem der Leverkusener Mobilitätsmanager Christian Syring mit einem Vortrag beteiligt sein wird. Und: Der Museumsshop hat in der Adventszeit donnerstags und freitags jeweils von 10.30 bis 13 Uhr sowie am 22. Dezember von 10.30 bis 13 Uhr geöffnet.