Im Fall um das fast verhungerte Mädchen aus Bergheim hat der Bundesgerichtshof (BGH) einen Verhandlungstermin für Ende Dezember festgesetzt. Das Landgericht Köln hatte die Mutter und ihren Freund im Mai 2021 wegen versuchten Mordes verurteilt.
Revision eingelegtBGH prüft Urteil zum Fall des fast verhungerten Mädchens aus Bergheim
Erneut beschäftigt sich die Justiz mit dem Fall der Mutter aus Bergheim, die im Mai 2021 wegen versuchten Mordes und der Misshandlung von Schutzbefohlenen zu neun Jahre Haft verurteilt wurde, nachdem ihre fünfjährige Tochter in ihrer Obhut fast verhungert war. Ebenfalls verurteilt wurde damals ihr Lebensgefährte, für den das Strafmaß mit sieben Jahren milder ausfiel, das Gericht sah ihn als weniger beteiligt an. Markus Gebhardt und Marius Meurer, die Verteidiger des Paares, hatten gegen das Urteil Revision eingelegt.
Verteidiger sehen keinen Beleg für Vorsatz
Die Kammer gehe in ihrem 120-seitigen Urteil von Grausamkeit und einer Verdeckungsabsicht aus, so der Bergheimer Strafverteidiger Gebhardt. Beides sei nicht belegt. Vielmehr müsse man davon ausgehen, dass es infolge völliger Überforderung zu grober Fahrlässigkeit gekommen sei.
Vorsatz sei nicht feststellbar gewesen, auch nicht in bedingter Form. Verschiedene Aspekte habe die Kammer nicht hinreichend berücksichtigt – etwa, dass einem psychologischen Gutachter zufolge die Isolierungstendenzen der jungen Mutter durch die Pandemie zusätzlich verstärkt worden seien.
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Ungewöhnlich: BGH will mündlich verhandeln
Üblicherweise weist der Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine Revision entweder zurück, bestätigt also das Urteil, oder gibt ihr statt. Dann muss vor einer anderen Kammer des zuständigen Gerichtes neu verhandelt werden. Nicht so in diesem Fall: Die Karlsruher Richter haben die Verteidiger für den 21. Dezember zu einer mündlichen Verhandlung geladen.
Das sei, so Meurer und Gebhardt, eine sehr seltene Situation, die darauf hindeute, dass Erörterungsbedarf bestünde. Am Ende der Verhandlung könne rein theoretisch ein neues Urteil stehen, das sei aber unwahrscheinlich. Sie erwarten eher eine Entscheidung bezüglich der Revision – in die eine oder andere Richtung. Hoffnung mache ihnen, dass auch der zuständige Generalbundesanwalt beantragt habe, das Urteil aufzuheben.
Fünfjährige wog so viel wie ein Baby
Das fünfjährige Mädchen war am 21. August 2020 mit einem Körpergewicht von 8,2 Kilogramm, dem Gewicht eines einjährigen Kindes ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Kammer zeigte nach 14 Verhandlungstagen davon überzeugt, dass die Kleine der Mutter lästig wurde, nachdem mit der Geburt ihres jüngeren Halbbruders ein gewolltes, eheliches Kind in deren Leben trat.
Mit 17 war die junge Frau schwanger, dann aber von ihrem damaligen Freund verlassen worden und hatte auch von ihrer Herkunftsfamilie nicht viel Unterstützung erhalten. Auffallend war gewesen, dass die Angehörigen des Paares sich, abgesehen von ihren Zeugenaussagen, dem Verfahren weitgehend fernhielten.
Gutachter diagnostizierte emotionales Unvermögen
„Beide hatten eine Kindheit und Jugend unter schweren Bedingungen“, hatte die Vorsitzende Richterin, Sabine Kretzschmar, in ihrer Urteilsbegründung knapp eingeräumt. Der psychologische Sachverständige Dr. Hanns Jürgen Kunert hatte bei beiden Angeklagten eine Alexithymie diagnostiziert, ein Unvermögen auf emotionaler Ebene.
Katholische Kita schloss auffallend mageres Mädchen vom Essen aus
Ein Erzieher hatte vor Gericht sein Entsetzen geschildert, als er in einer Kita die Kleine gewickelt habe: „Das war nur noch Haut und Knochen.“ Mehreren Erziehern zufolge soll das Mädchen schon lange durch extreme Magerkeit aufgefallen sein.
Dennoch wurden die Kleine und ihr Bruder in der katholischen Kita mehrere Monate lang vom Essen ausgeschlossen, weil die Mutter Beträge nicht bezahlt hatte. Die Kita ist jedoch nicht die einzige Instanz, auf die das Verfahren ein fragwürdiges Licht warf.
Frühere Familienhelferin schlug Alarm
Laut einer früheren Familienhelferin hatte es trotz des Verdachts möglicher Kindeswohlgefährdung in der Betreuung keine Kontinuität gegeben, bevor diese zu ihrem völligen Unverständnis schließlich eingestellt worden sei. Einer zufälligen Begegnung zwischen ihr und der Mutter war es zu verdanken, dass sie erneut auf den Fall aufmerksam wurde und die Behörden einschaltete – keinen Tag zu früh, wie man den Einschätzungen der Gerichtsmedizinerin entnehmen konnte.
„Wenn ich ein Kind so auffinden würde, würde ich 112 wählen und hoffen, dass es noch lebt, wenn die Rettungskräfte eintreffen“, hatte Professorin Dr. Sibylle Banaschak ein Foto kommentiert, das im zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffinden des Mädchens entstanden war.