Königswinter – 75 Reden hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im vergangenen Jahr gehalten, listet das Bundespresseamt auf. Das sind ein bis zwei pro Woche – da hat ein Redenschreiber viel zu tun. Thilo von Trotha weiß das aus eigener Erfahrung, denn er saß in der „Schreibstube“ von Merkels Vor-Vor-Vorgänger Helmut Schmidt und schuf Manuskripte, aus denen der Regierungschef seine Ansprachen formte. Jetzt feierte der aus altem ostdeutschen Adel stammende von Trotha, der in Königswinter die Akademie für Redenschreiben (ARS) führt, seinen 80. Geburtstag.
Von Trotha wurde 1940 in Gera geboren und wuchs in Weimar auf, 1955 flüchtete er in die Bundesrepublik und studierte in Bonn und Koblenz Rechtswissenschaften, 1971 wurde er in Köln promoviert. Während seines Referendariats begann er für Bundestagsabgeordnete Reden zu schreiben. Wie er dazu kam? „Wie die Jungfrau zum Kind“, antwortet er: Weil er Chefs hatte, die sahen, dass er Freude am Formulieren von Gedanken hatte, wurde er gebeten, ihnen für mancherlei Gelegenheiten kleine Reden aufzusetzen. Daraus machte der Jurist dann einen Beruf.
Im Jahr 1974 kam er in die „Schreibstube“ des Bundeskanzleramts. Sechs Jahre wirkte er dort und schrieb für Schmidt vornehmlich Reden über innenpolitische Themen. Marianne Duden, die Sekretärin des Kanzlers, so erzählt es von Trotha, überbrachte die Aufträge. Sie reichte den drei bis fünf Redenschreibern Zettel ins Büro mit den Zusagen des Chefs, wo er demnächst eine Ansprache zu halten gedenke, vor Gewerkschaften, auf Historikerkongressen oder bei Arbeitgebertreffen.
Helmut Schmidt, „ein brillanter Redner und schneller Kopf“, so von Trotha, habe sich beileibe nicht immer wortgetreu ans Manuskript gehalten, schildert Trotha, sondern hier und da während des Vortrags mal einen Satz umgestellt oder einen Absatz weggelassen.
Mit Rotstift auf der Regierungserklärung
Vor Regierungserklärungen oder anderen bedeutenden Ereignissen setzte sich Schmidt allerdings mit seinen Ghostwritern oft stundenlang zusammen und ging die Vorlage „energisch“ mit ihnen durch. Aber auch danach strich er den Text noch einmal zusammen, um Nuancen anders zu setzen. Im Archiv der „Bundeskanzler Helmut Schmidt Stiftung“ befindet sich das Originalmanuskript der ersten Regierungserklärung vom 16. Mai 1974 des gerade als Nachfolger von Willy Brandt gewählten Kanzlers. Man sieht auf dem Papier, wie kräftig sein Rotstift darauf gewerkelt hat.
Wie wirkt eine Rede auf die Zuhörer? Thilo von Trotha hat das mit Hilfe des von ihm erfundenen Klatschogramms ermittelt. Im Bundestagswahlkampf 1980 hatte er zum wiederholten Mal die gleiche Ansprache Schmidts gehört, „und das langweilte mich ein wenig“.
Von Trotha glaubte an Wiedervereinigung
Um sich abzulenken, zeichnete er während eines Auftritts des Sozialdemokraten auf einem Rechenpapier ein Diagramm. Die horizontale Linie stellt die Zeit dar, eingeteilt in Fünf-Minuten-Blöcke, vertikal wird der Applaus vermerkt: erster Beifall nach so und so viel Minuten. Daraus lässt sich anhand einer Kurve das Echo einer Rede feststellen.
Später vermerkte von Trotha noch die Sachthemen, bei denen sich die Hände der Zuhörer am lautesten rührten. „Das waren damals vor allem deutsch-deutsche Themen“, erinnert sich der 80-Jährige. Nur: Kaum ein Regierender glaubte seinerzeit an die Wiedervereinigung. Von Trotha: „Ich schon.“
1981 nach Weimar
Es passt daher, dass er, seit 1981 selbstständig, nach der Wiedervereinigung nach Weimar ging und kostenlose Seminare rund ums Redenschreiben anbot; zudem initiierte er Mitte der 90er Debattierclubs an Weimarer Schulen. 1998 gründete er in Bonn den Verband der Redenschreiber deutscher Sprache, dessen Ehrenpräsident er nach sechs Jahren an der Spitze heute ist.
Der Fachmann erklärt seinen Schülern, wie viel Redezeit ein Zuhörer aushalten kann: maximal 20 Minuten. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan habe in den USA empirisch untersuchen lassen, dass selbst hoch gebildete Akademiker nur 20 Minuten am Stück zuhören könnten, ehe die Gedanken abschweiften. In der Bonner Republik dauerten Reden von Regierenden oder Unternehmern manchmal bis zu 60 Minuten, Sowjetführer oder Fidel Castro schafften es sogar, stundenlang zu schwadronieren.
Und noch eins hat Thilo von Trotha erfahren: Jemand, der in einer Rede abwägt, werde heute oft nicht mehr ernst genommen, jedes Überlegen, jedes Ausdeuten der zwei Seiten einer Medaille werde inzwischen als Schwäche gedeutet. Das Publikum verlange Eindeutigkeit, doch „Eindeutigkeit ist schon eine halbe Lüge“, kritisiert der 80-Jährige. Sehr eindeutig.