Essen – Nach mehr als elf Wochen Streiks mit Tausenden von verschobenen Operationen an sechs Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen scheint der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen kurz vor dem Ende zu stehen. In der Nacht zum Dienstag haben die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) und die Arbeitgeberseite eine mögliche Einigung erzielt, teilte Verdi am Dienstag mit. Die Verdi-Tarifkommission wollte demnach im Laufe des Nachmittags über die Annahme des neuen Tarifvertrags Entlastung für die sechs Häuser in Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster entscheiden, hieß es weiter.
Sollte Verdi dem ausgehandelten Abschluss zustimmen, würde der bisher längste Arbeitskampf im Gesundheitswesen des Landes nach 79 Streiktagen zu Ende gehen. Die Verdi-Führung wollte am Abend (19.30 Uhr) in einer Pressekonferenz in Köln darüber informieren.
Die Gewerkschaft hatte mehr als elf Wochen einen Arbeitskampf geführt, um spürbare Verbesserungen insbesondere in der chronisch unterbesetzten Pflege, aber auch in anderen Klinikbereichen zu erreichen. Weit mehr als 10.000 Operationen mussten wegen knapper Besetzung an den sechs Kliniken seit Anfang Mai verschoben werden. Eine Vielzahl von Corona-Erkrankten verschärfte die Lage zusätzlich.
In einigen Teilen Deutschlands gibt es längst einen sogenannten Tarifvertrag Entlastung (TV-E), der genaue Personalbemessungen für einzelne Krankenhausbereiche regelt. In NRW begann der Arbeitskampf mit einem 100-Tage-Ultimatum Anfang dieses Jahres an die Arbeitgeber. Diese Frist ließen die Uniklinik-Chefs verstreichen, worauf sich der Ton verschärfte. Für die Beschäftigten in der Pflege und den übrigen Bereichen des Klinikbetriebs war die Situation nach eigenem Bekunden unerträglich geworden, weil die Betreuung und Versorgung der Patientinnen und Patienten aufgrund des Personalmangels immer mehr litt.
Lange weigerten sich die NRW-Unikliniken, an den Verhandlungstisch zu kommen und Angebote vorzulegen. Zudem gab es rechtliche Hürden für direkte Verhandlungen der Streit-Parteien. Weil die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) Verhandlungen ablehnte, musste der NRW-Landtag den Weg freiräumen mit der Änderung des Hochschulgesetzes. Ende Juni gelang dies mit den Stimmen der neuen schwarz-grünen Koalition sowie der Fraktionen von SPD und AfD. Nun konnten die Unikliniken aus dem Arbeitgeberverband der Länder (AdL), die Mitglied der TdL sind, austreten und eigenständig Tarifverhandlungen führen. Zudem sagte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Streikenden öffentlich zu, dass das Land für eine Refinanzierung der nicht von den Krankenkassen übernommenen Kosten an den Kliniken geradestehen würde. Für alle Seiten war dies ein entscheidendes Signal.
Verhandelt wurde zu dem Zeitpunkt bereits seit Wochen, lange aber ohne Annäherung. Auch der Druck der Politik und Laumann (CDU) sowie Bundesgesundheitsmister Karl Lauterbach (SPD), die sich deutlich für einen Entlastungstarifvertrag aussprachen, trugen schließlich wohl zum Umdenken der Kliniken bei.
Leidtragende der langwierigen Auseinandersetzung waren vor allem die Patientinnen und Patienten. Allein am Uniklinikum Essen konnten rund 2600 mehr oder minder dringliche Operationen nicht durchgeführt werden. Es werde „sehr lange dauern”, bis dieser Berg nach Streikende abgearbeitet sei, sagte Essens Klinik-Direktor Jochen Werner der Deutschen Presse-Agentur vor wenigen Tagen. „Ich hätte mir gewünscht, gerade vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Einigkeit in vielen Sachfragen, dass Verdi während der laufenden Gespräche die Intensität des Streiks zurückgefahren hätte”, sagte Werner. „So waren und sind die Leidtragenden neben den zusätzlich belasteten Beschäftigten vor allem die Patienten, auch wenn es durch Notdienstvereinbarungen eine Basisversorgung der Notfälle gegeben hat.”
Grundsätzlich kann Werner die Forderungen der Beschäftigten nicht nur nachvollziehen, sondern „ich unterstütze sie sogar prinzipiell”. Allerdings werde laut Werner auch der Entlastungstarifvertrag die viel tiefer gehenden Probleme in der Pflege und den großen Mangel an Fachkräften nicht lösen. Werner glaubt vielmehr, dass nun die personell ohnehin schon besser ausgestatteten Unikliniken noch mehr des auf dem Markt verfügbaren Personals abziehen werden. „Der Sog wird noch stärker in die Unikliniken gehen. Die Verlierer sind alle anderen Krankenhäuser in den Ebenen darunter”, sagte Werner der dpa. „Das geht bis in die Altenpflege, weil man wie in einem rollierenden System immer mehr von links nach rechts schiebt. Nur am Ende haben wir die Grundprobleme des Gesundheitswesens in keiner Weise gelöst: die Krankenhausdichte. Und wir haben das Digitalproblem nicht im Entferntesten gelöst.”
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