Berlin – Zwei Tage vor der Bundestagswahl geht Fridays for Future noch einmal zum globalen Klimastreik auf die Straße. Das Motto „uproot the system“ – entwurzelt das System – zeigt bereits, dass es hier nicht um eine Wahlempfehlung geht und auch nicht um die höfliche Bitte um Teilnahme an der nächsten weltweiten Klimakonferenz im schottischen Glasgow. Ein Schwerpunkt der Proteste wird Berlin sein, hier sprechen unter anderem Greta Thunberg und Luisa Neubauer.
Leicht erkältet kommt Neubauer zum Gespräch im RND-Hauptstadtbüro – und findet klare Worte dafür, was sie im Bundestagswahlkampf vermisst hat.
Frau Neubauer, spielt der Klimaschutz im Bundestagswahlkampf die Rolle, die er verdient?
In diesem wirklichkeitsbefreiten Wahlkampf haben alle Parteien einigermaßen erfolgreich das Märchen von einer Welt erzählt, in der man alles im Griff hat. Eine Welt, die nur noch optimiert werden muss. Also weiter so in Grün oder weiter so in etwas sozialdemokratischer, weiter so in ein bisschen freier oder ein bisschen freundlicher. Das ist aber ein Märchen.
Die Wahrheit ist: Die Krise ist da. Das Reden über die Krise aber – wenn es überhaupt stattfindet - haben die Parteien mit vereinten Kräften bürokratisiert. Es geht nicht mehr um die große Krise, sondern um ganz viele kleine bürokratische Maßnahmen. Die eigentliche Krise findet überhaupt nicht mehr statt. Die Welt tobt und brennt, und im deutschen Wahlkampf sprechen wir darüber, was jetzt mit der Pendlerpauschale wird. Menschen verlieren das große Ganze aus dem Blick.
Im Wahlkampf muss es um unterschiedliche Konzepte gehen, um konkrete Politik – was fehlt Ihnen?
Wenn es im Wahlkampf ums Klima geht, dann geht es um Flüge, Fleisch und Verbrenner. Das sind interessante Themen, über die man debattieren kann. Aber es bringt nichts, sie isoliert zu führen und nicht einzubetten in die Frage, wie man die Menschheitskatastrophe, die alles infrage stellt, die unsere Gesellschaft bis zu den Grundzügen bedroht, noch abwenden kann. Nur dann bekommen die Debatten ihre Dringlichkeit. Wir diskutieren stattdessen, auf welchem Weg Belastungen durch einen höheren CO₂-Preis zurückgezahlt werden sollen. Und wenn man dort keine Antworten findet, ist plötzlich die Klimakrise nicht mehr so wichtig.
Ist das keine relevante Debatte? Die Angst vor den Kosten für Klimaschutz ist real – und da braucht es Konzepte. Natürlich müssen Politikerinnen und Politiker im Wahlkampf über konkrete Themen sprechen, oder nicht?
Die eine Frage lautet: Was müssen wir ändern? Die andere: Wer ist schuld, dass es so weit gekommen ist? Die erste Debatte ist lebenswichtig. Die zweite könnte man auch nicht führen und einfach nach vorne schauen. Das geht aber deshalb nicht, weil die SPD und CDU ihre Versäumnisse nicht eingestehen, sondern sich gegenseitig für den klimapolitischen Scherbenhaufen verantwortlich machen. Sonst können sie niemandem glaubhaft verkaufen, dass sie jetzt irgendeine Form von Klimaschutz umsetzen wollen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Die SPD hatte acht Jahre, die CDU 16 Jahre Zeit. Heute steigen die Emissionen mehr als in den letzten 30 Jahren. Die Fragen, die ich mir wünsche, sind: Wie geht klimagerechte Politik? Was müssen wir machen? Welche Ziele müssen wir erreichen? Wie kommen wir dahin? Statt über die Zukunft reden wir über die Vergangenheit. SPD und CDU versuchen ihre Bilanz schönzurechnen.
Die am häufigsten gestellten Frage im Wahlkampf lautet nicht: Wie verhindern wir Katastrophen? Und das trotz der Überschwemmungen in Westdeutschland, trotz der Rekordhitze an der US-Westküste, trotz der Waldbrände in Sibirien, Griechenland und anderswo. Woran liegt das?
Alle reden von „moderaten“ Maßnahmen. Ob Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock - niemand möchte der Gesellschaft etwas zumuten. Das ist herzallerliebst - und ein großes Missverständnis. Wären sie ehrlich, müssten sie sagen: Wenn man wenig verändert, wird sich ganz viel verändern – und zwar zum Schlechten. Das wäre die Botschaft. Wer sich nicht traut, das zu sagen, erzählt Lügen.
Alle Spitzenkandidierenden erzählen die Unwahrheit über die Klimapolitik?
Ja, natürlich in großen Abstufungen, da müssen wir uns ja hier nichts vormachen. Und dass man jetzt nicht ehrlich ist, ist schon krass. Denn sie werden klimapolitische Maßnahmen ergreifen müssen, es wird Verzicht geben müssen - aber jetzt holen sie sich erst einmal die Stimmen ab.
Was wird nach der Wahl besser? Egal, welche Koalition regiert, es wird vermutlich ein „Ministerium für Klimaschutz“ geben. Welche Politik setzt dieses Ministerium um?
Wir werden im besten Falle eine Politik erleben, wie wir sie noch nicht kennen. Im besten Falle werden wir das erleben, was in diesem Wahlkampf so sehr gefehlt hat, nämlich eine Vision und eine Erzählung über das, was wir als Gesellschaft sein können, wo es hingehen kann, wo sich jeder und jede einbringen kann. Im besten Falle werden wir eine Politik erleben, die bereit ist, Menschen zu begeistern und Mehrheiten zu überzeugen und mit guten Plänen und Konzepten zu inspirieren.
Wie wahrscheinlich ist das?
Es hilft ja alles nichts. Wir werden 40 Jahre Klimaignoranz, 16 Jahre Merkel aufholen müssen. Das Pariser Abkommen wurde vor sechs Jahren unterzeichnet. Noch einmal: Im besten Falle werden wir alle überrascht von einer Regierung, die zeigt, wie politischer Wille in der Klimakrise aussieht. Wir wissen, dass es möglich ist und wir wissen auch laut Umfragen, dass es eine generationenübergreifende Bereitschaft gibt in der Bevölkerung für Klimaschutz.
Abstrakt gibt es diese Bereitschaft bestimmt, aber konkret? Die Zulassungszahlen für Autos sind noch einmal gestiegen. Die Verlustängste dominieren den Wahlkampf, bei den einen aggressiver, bei den anderen unterschwelliger.
Der status quo wird als erhaltenswert dargestellt, dabei ist er für viele unzumutbar. Warum ist denn der öffentliche Nahverkehr in ländlichen Regionen so schlecht ausgebaut, dass Leute aufs Autofahren angewiesen sind? Warum akzeptieren wir 20.000 Hitzetote jeden Sommer? Warum sind die Flächen so verdichtet, und Alarmsysteme so schlecht ausgebaut, dass ein einziges Hochwasser für über 180 Menschen den Tod bedeutet? Und wir bei einer Weiter-so Politik viel häufiger und schlimmere dieser Extremergebnisse erwarten müssen?
Sie haben 42 Prominente – von Iris Berben über Axel Prahl und Charly Hübner bis zu Enissa Amani – zusammengebracht, die zur Wahl auffordern. „Die Bundestagswahl ist historisch. Sie ist eine Jahrhundertwahl“, schreiben Sie. Aber Sie geben keine Wahlempfehlung. Müssten nicht gerade Sie sagen: Auch die Grünen sind nicht perfekt, aber wir wollen zumindest erreichen, dass es eine grüne Klima-Superministerin gibt?
Wenn Sie das so sehen, schreiben Sie es auf.
Ich frage Sie. Ich mache keinen Wahlkampf für eine Partei.
Ich auch nicht.
Aber Sie sind Grünen-Mitglied.
Wir rufen alle Menschen vehement dazu auf, wählen zu gehen, auch stellvertretend für die Kinder und Jugendlichen, die nicht wählen dürfen, wir aber die Klimakrise am längsten auszubaden haben. Wer möglichst klimagerecht wählen gehen kann, dem empfehle ich die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die hat jedes Programm auf Klimafreundlichkeit geprüft und zeigt auch auf, wie groß die Unterschiede zwischen den Parteien sind.
Die Sache ist aber die: Kein Wahlprogramm ist mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar. Aber jede Partei wirbt für Klimaschutz und schreibt das auf ihre Plakate. Wenn diese Parteien wegen dieser Versprechen gewählt werden, haben sie die Pflicht, dem gerecht zu werden. Jede Partei ist dafür verantwortlich. Nach der Wahl ist die Stunde der Wahrheit. Und wir, die Klimaktivistinnen und Klimaaktivisten, werden auch noch da sein. Das kann ich versprechen.
Das Gespräch führten Jan Sternberg und Alisha Mendgen