Köln – Digitaler Schulunterricht in der Corona-Krise – das sorgte vor allem im ersten Lockdown tatsächlich für eine Krise, und zwar nervlicher Art. Wenn überhaupt die technische Infrastruktur funktionierte, wenn das WLAN lief, wenn nicht gerade Schwester oder Bruder am einzigen PC der Familie irgendetwas Dringendes zu erledigen hatten, gab es vielfältige Probleme obendrauf: Lehrerinnen und Lehrern fehlt die entsprechende Handreichung, wie digitaler Unterricht grundsätzlich auszusehen habe, welche Ansprache der Schülerinnen und Schüler sinnvoll ist, in welcher Menge Aufgaben gestellt werden sollten.
Umgekehrt wussten die Lernenden (und ihre Eltern) oft nicht, wie sie die Anforderungen bewältigen, wie sie ihren Alltag am besten strukturieren, wie sie mit dem Wust der Mails zurechtkommen sollten, die sich täglich im Postfach fanden.
Doch auch, wenn all das funktioniert, wenn Plattformen wie Moodle absturzfrei arbeiten und Unterricht per Video-Konferenz möglich ist – ist das bereits ein guter, gelingender digitaler Unterricht? Oder braucht es dafür nicht vielmehr eine eigene Didaktik, eine spezielle Form der Vermittlung, vielleicht weit über die Krise hinaus. Was kann digitaler Unterricht also möglicherweise für den ganz normalen Schulalltag bringen, und was müssen Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler dafür lernen?
Mit diesen Fragen beschäftigte sich eine aus verschiedenen gesellschaftlichen und pädagogischen Bereichen zusammengesetzte Diskussionsrunde, die Fragen des digitalen Unterrichts immer wieder auch im Zusammenhang mit der Reformbedürfigkeit von Schule und Unterricht überhaupt debattierte. Die Teilnehmer waren:
• Myrle Dziak-Mahler, Kanzlerin der Alanus-Hochschule• Alexandra Habicher, AG Digitale Lehre am Zentrum für LehrerInnenbildung Uni Köln• Marion Hensel, Leiterin der Helios-Grundschule Köln• Jürgen Möller, Kölner Akademie für Lernpädagogik• Xueling Zhou, Kölner Schülerin, Mitglied im Vorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW• Annette Hugger, Leiterin der Abteilung Personal- und Organisationsentwicklung der DEVK
Das Gespräch moderierte Hendrik Geisler, Redakteur im Wirtschaftsressort des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Experte für Fragen der Digitalisierung. Im Folgenden dokumentieren wir in Auszügen die Diskussion, die pandemiebedingt als Videokonferenz stattfand.
Frau Zhou, wenn wir von zukunftsfähigem digitalen Unterricht sprechen – was sind aus Sicht von Schülerinnen und Schülern die größten Hürden auf dem Weg dorthin?
Xueling Zhou: Ich glaube, dass eine der größten Hürden ist, dass in den Köpfen vieler Lehrerinnen und Lehrer die Vorstellung verankert ist, digitaler Unterricht sei eins zu eins dasselbe wie Präsenzunterricht. Digitalunterricht ist eine gute Ergänzung zum Präsenzunterricht und sollte die Pandemie überdauern. Nichtsdestotrotz sieht er noch immer viel zu oft so aus, dass die Schülerinnen und Schüler mehrere Stunden am Tag vor dem PC sitzen. Ein weiteres Problem ist die Benotung, die nach den Prinzipien des Präsenzunterrichts erfolgt.
Alexandra Habicher: Ich stimme vollkommen zu. Die Krise hat das Spannungsfeld, das Frau Zhou gerade beschrieben, sehr deutlich gemacht: Was wir eigentlich unterrichten wollen mit den gegenwärtigen Benotungs- und Bewertungssystemen, verträgt sich nicht mit den Anforderungen des Digitalunterrichts. Was wir dringend brauchen, ist die Entwicklung neuer Prüfungsformate. Dazu gehört auch die Schaffung eines rechtsverbindlichen Rahmens.
Marion Hensel: Ich finde, auch der Präsenzunterricht sollte sich ändern. Auch dort sollte mehr auf Eigenständigkeit und Selbstverantwortung gesetzt werden. Was die Prüfungen betrifft, für die ich mir sehr Erleichterungen seitens des Bildungsministeriums wünsche, würde ich gerne den Aspekt der Teamarbeit anführen: Müssen immer Einzelleistungen benotet werden? Wie kann kollaboratives Arbeiten aussehen? Sind die Bewertungsmaßstäbe noch zeitgemäß oder überhaupt notwendig?
Jürgen Möller: Ich bin immer sehr erstaunt, was alles als Digitalisierung angesehen wird – da reicht oft schon ein eingescanntes Arbeitsblatt, und schon wird das so bezeichnet. Schlechte Methoden, die einfach nur digitalisiert werden, bleiben schlecht. Wichtig ist die Frage, an welcher Stelle Digitalisierung Sinn ergibt. Wenn wir zum Beispiel über Gamification sprechen: Warum spielen Kinder gerne, wie können wir nutzen, dass sie im Spiel lernen? Und was die Benotung angeht, so muss man feststellen, dass Schule sich nur schwer wandelt, wenn diese der einzige Maßstab für die Bewertung von Erfolg oder Misserfolg ist.
Frau Dziak-Mahler, Sie sind eine starke Befürworterin des Wandels der Schule.
Myrle Dziak-Mahler: Im Zusammenhang der Digitalisierung geht es vor allem darum, methodisch und didaktisch anders zu denken. Gerade läuft es so, dass der Präsenz- oft nur in den Digitalunterricht übertragen wird. So wie die Lehrerin oder der Lehrer sonst vor der Klasse stehen, sitzen sie nun vor der Webcam. Das zeigt die generelle Schwäche des Systems: Frontalunterricht funktioniert schon lange nicht mehr, das wird offenbar, wenn man versucht, ihn ins Digitale zu übertragen. Ein kurzfristiges Mittel wäre, herkömmliche Methoden zu überdenken: Was ich normalerweise in die Hausaufgabe verlege – das Üben, das Wiederholen, das Nachfragen – verlegt man in die Klasse. Und das Eigentliche, was man im Frontalunterricht etwa mit Hilfe des Schulbuchs macht, wird als Hausaufgabe aufgegeben. Und dieser „flipped classroom“ muss darüber hinaus mit dem Verständnis korrespondieren, dass die Lehrkraft nicht mehr unterrichtet, sondern begleitet und berät und damit zur Individualisierung beiträgt.
Frau Hugger, was ist in Unternehmen heute gefragt? Sind das digitale Kompetenzen, geht es um technisches Wissen?
Annette Hugger: Was wollen wir von Schülerinnen und Schülern, die zu uns kommen? Es geht darum, dass sie Feedback geben können, dass sie mit Veränderungen umgehen können, dass sie für ihre Aufgaben brennen. Noten und Prüfungsergebnisse sind für uns nur das letzte Glied in der Kette: Es geht für uns nicht um Absolventen, die nur Einsen auf dem Zeugnis haben. Wir schauen das Gesamtpaket an. Und da wäre mein Wunsch, dass der Unterricht schon heute ein Spiegelbild dessen ist, was wir erwarten; mit Lehrerinnen und Lehrern, die für ihre Themen brennen, die sich in die digitale Welt reinbeamen, auch wenn sie nicht sofort ein Gerät von der Schule zur Verfügung gestellt bekommen; die sich mit digitalen Kanälen wie zum Beispiel Youtube und Tiktok auskennen – dass sie also ein Rollenmodell sind für ihre Schüler und Veränderungen annehmen.
Herr Möller, wie kann das eigenständige Lernen, das hier intensiv gefordert wird, in der Schule selbst stärker zum Tragen kommen?
Möller: Indem wir den Schülerinnen und Schülern Selbstständigkeit zutrauen. Im vergangenen Jahr wurde diese erwartet, wobei es davor kaum Gelegenheiten gab, Selbstständigkeit einzuüben. Das System, von dem wir sprechen, ist eines, das unsere Kinder auf eine Welt vorbereitet, die gar nicht mehr existiert. Schule ist unter völlig anderen Bedingungen entstanden. Man muss sich überlegen, was sich in den vergangenen 100 Jahren alles verändert hat, von der Politik über Mode und Musik bis hin zu Technologie und Arbeitswelt. Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, die heute den Unterricht besuchen, werden später in Berufen arbeiten, die noch gar nicht existieren. Außerhalb der Schule ist kein Problem der Welt in Fächer aufgeteilt, da muss sich auch der Lehrerberuf verändern, fort von der Wissensvermittlung hin zur Lernbegleitung.
Zhou: Leider habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass Schülerinnen und Schüler, die selbstständig und eigenwillig sind und dies auch zeigen, vom System zurückgedrängt werden. Individualität ist nicht gefragt, stattdessen geht es darum, die einmal gelernte Deutschanalyse wieder zu reproduzieren. Das System muss dringend verändert werden.
Frau Hensel, erläutern Sie doch bitte einmal, wie die Schülerinnen und Schüler bei Ihnen konkret mit digitalen Mitteln arbeiten?
Hensel: An der Heliosschule wird das Tablet so genutzt wie im Alltag auch. Wenn die Kinder zum Beispiel in den Wald gehen, haben sie statt eines Bestimmungsbuches ein Tablet dabei; sie fotografieren, drehen kleine Filme, produzieren Podcasts, und das Gerät wird zur Kommunikation und für die Zusammenarbeit genutzt. Auch die Vorgaben des Ministeriums sind zum Teil nicht schlecht, sie zielen auf asynchrones Lernen, auf Projektarbeit. Wir möchten, dass Portfolios, in denen die Kinder die Ergebnisse ihrer Arbeit darstellen, immer mehr digitale Form annehmen. Auch wir als Erwachsene haben in der Pandemie ungeheuer viel über Tools gelernt, so dass wir ein Medienkonzept, das wir vor zwei Jahren geschrieben haben, schon wieder ad acta legen können.
Die Welt ist also größer geworden?
Hensel: Gerade für die Kinder, die noch nicht lesen, gibt es eine riesige Erweiterung durch Ton und Bild, durch den Kontakt, der über den konkreten Raum, in dem man sich gerade befindet, hinausgeht. Es wäre völlig lebensfern und ginge an der Wirklichkeit der Kinder vorbei, wenn wir nicht mit diesen Geräten arbeiten würden.
Möller: Da möchte ich Frau Hensel ausdrücklich recht geben – die Kinder befinden sich bereits in der digitalen Welt, das darf man nicht ausschließen. Würde man hier mit Verboten arbeiten, würde Schule zum Museum werden. Wenn ich als Erdkundelehrer mit einem 20 Jahre alten Atlas ankomme, die Schüler hingegen sofort wissen, wo sie neuere Daten digital herbekommen, werde ich als Lehrer nicht mehr ernst genommen. Man muss schauen, wo es Sinn ergibt, das Repertoire an Methoden zu erweitern – ich bin nach wie vor ein Fan von realen Erfahrungen, in den Wald gehen, Handschrift – alles wichtig.
Und dennoch: Wenn ich zum Beispiel in Biologie den menschlichen Körper durchnehme, kann ich – statt einen Text zu lesen – eine App nutzen, mit der ich durch den Körper fahre. Das ist ein klarer Mehrwert. Nationen, die viel stärker als wir auf die Entwicklung Künstlicher Intelligenz setzen, sind auch im Bildungsbereich viel weiter. Wir sind noch immer ein Land des Maschinenbaus, und unsere Schulen sind Instruktionsanstalten und keine kreativen Werkstätten.
Welche Rolle spielt dabei die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, Frau Habicher?
Habicher: Wir haben an der Universität Köln bereits vor einigen Jahren den Universitätsverbund digiLL gegründet und damit eine neue Art der Zusammenarbeit geschaffen. Es handelt sich um eine Plattform, die Kompetenz aufbauen soll rund um die Anforderungen der digitalen Welt. Die Universitäten müssen sich also stärker vernetzen, aber es geht auch um die Bildungsinstitutionen wie die Schulen selbst. Dort sollen angehende Lehrkräfte möglichst nicht hinten im Klassenraum sitzen und den Unterricht beobachten. Auch hier geht es darum, dass sie ihre Kompetenzen einbringen, gerade im Digitalen.