AboAbonnieren

Viele Weltklasse-SpielerWas Frankreich anders macht als Deutschland

Lesezeit 5 Minuten
Die gesamte Mannschaft der Franzosen inklusive der Auswechselspieler feiert das Tor zum 2:1 für Frankreich im WM-Viertelfinale gegen England.

Frankreichs Team feiert Olivier Giroud (Nummer 9), den Torschützen des 2:1 gegen England.

Titelverteidiger Frankreich steht nach einem 2:1-Sieg gegen England erneut im WM-Halbfinale. Das Team verfügt über ein riesiges Reservoir an Top-Talenten – wie kann das sein?

Diesmal war es Olivier Giroud, der den Unterschied für Frankreich gemacht hat, ein stabiler Veteran von 36 Jahren und ein Mittelstürmer aus dem Lehrbuch. Groß, kopfballstark im eigenen und gegnerischen Strafraum, dazu immer bereit zu helfen, auf den Flügeln oder eben im Zentrum. Das klappte diesmal so gut, dass Giroud neben den Aufräumarbeiten im eigenen Strafraum auch noch nach 78 Minuten im gegnerischen Fünfmeterraum mit dem Kopf für die Entscheidung gegen England sorgte.

Sein Tor war das siegbringende 2:1 im letzten Viertelfinale der WM in Katar. Giroud ist der von allen Mitspielern geschätzte mentale Anführer des Weltmeisters, das war er vor vier Jahren schon, als er mit der französischen Elf in Moskau die Krone des Weltfußballs eroberte, nach einem 4:2-Sieg im Finale gegen Kroatien.

Giroud macht diesmal den Unterschied

Vor allem der ansonsten allseits als Unterschiedsspieler in Frankreichs Auswahl geschätzte Kylian Mbappé spielt ganz besonders gern mit Giroud zusammen, lieber noch als mit Karim Benzema, dem verletzten Top-Mittelstürmer der Franzosen von Real Madrid. Und seit der WM vor vier Jahren hat sich das französische Team in Bezug auf seine Auswahl sogar noch einmal verbessert.

Die verletzungsbedingten Ausfälle der Stammspieler und Weltmeister Paul Pogba, Presnel Kimpembé, N’Golo Kanté, dazu noch Benzema und Christopher Nkunku konnte Trainer Didier Deschamps lässig ausgleichen mit herausragenden Spielern wie Dayot Upamécano vom FC Bayern oder Aurélien Tchouaméni (22) von Real Madrid, am Samstag übrigens Schütze des 1:0 gegen England. In Deschamps Stammelf fehlt trotzdem noch ein Könner von internationalem Format wie Bayerns Außenstürmer Kingsley Coman.

Mbappé, Giroud und ihre Mitspieler in Katar sind nur die populärsten Vertreter eines Landes, das über ein riesiges Füllhorn an herausragenden Talenten verfügt. Die heimische Ligue 1 transferiert Jahr für Jahr junge Spieler in die besten Ligen Europas, in der vergangenen Saison spielten allein 121 Franzosen in England, Spanien, Deutschland und Italien. Erst in diesem Sommer wurde Frankreich U-17-Europameister.

Die Ausbildung ist exquisit

Und im Kreis der vier noch bei der WM in Katar vertretenen Teams ist erneut Frankreich dabei, dank einer herausragenden Team-Balance womöglich sogar mit den größten Titelchancen von allem. Das provoziert eine Frage: Wie kann das sein?

Auf der Suche nach der Antwort können unter anderem Giroud sowie Mbappé und das Beispiel ihrer fußballerischen Entwicklung helfen. Giroud entstammt einem der verpflichtenden und mit rigiden Kriterien wie einer festgelegten Zahl an ausgebildeten Trainern versehen Leistungszentren der Profiklubs.

Giroud, geboren in Chambéry am Fuße der Savoyer Alpen, wurde in die Akademie des AJ Auxerre delegiert. Die meisten Ideen für die Ausbildung der Spieler stammen jedoch aus Clairefontaine, dem Verbandszentrum für Ausbildung, eine Schule, die auch Mbappé durchlaufen hat. Clairefontaine-en-Yveline ist ein kleiner Weiler von knapp 800 Einwohnern, gelegen im Süden von Paris und Teil der Region Île-de-France, des Ballungsraums rund um die Hauptstadt.

Die Rolle von Clairefontaine

Auf dem Gelände, 1988 für diesen Zweck freigegeben, befinden sich 14 Fußballfelder, dort bereitet sich das A-Nationalteam auf Länderspiele und Turniere vor, das gilt auch für die aktuelle WM-Kampagne in Katar. In schlossähnlichen Gebäuden gibt es 200 Zimmer und 300 Betten, dazu ein Restaurant und auch ein medizinisches Zentrum. Clairefontaine ist die wichtigste Ausbildungsstätte des französischen Fußballs.

Ein französischer Fan hat sein Gesicht in den Landesfarben Blau-Weiß-Rot angemalt und feuert seine Nationalelf in Katar an.

Ein französischer Fan im Stadion von Al-Khor.

Der Verband lädt Jahr für Jahr die talentiertesten 13-Jährigen der Region Île-de-France zu Sichtungszwecken ein, 22 Auserwählte erhalten Jahr für Jahr den Zuschlag, das Arsenal an Hochbegabten jedoch ist in ganz Frankreich riesig. Das hat auch mit der Historie des Landes als Kolonialmacht zu tun. Viele Millionen Menschen kamen und kommen aus diesen Gebieten nach Frankreich, um sich dort, nach einem besseren Leben suchend, niederzulassen.

Der Fußball bietet ihren Kindern eine Aufstiegsmöglichkeit. Davon kündet etwa die Geschichte des N’Golo Kanté, Sohn von Einwandern aus Mali, die unter ärmsten Bedingungen lebten. Kanté schaffte dank fußballerischer Brillanz den Sprung nach ganz oben, er ist Weltmeister und einer der Stars des FC Chelsea. Die 13-Jährigen werden drei Jahre in Clairefontaine ausgebildet. Zunächst wird ihr Dribbling perfektioniert, im zweiten Jahr das Passspiel, im Abschlussjahr geht es um die Umsetzung taktischer Varianten.

Erst im U-16-Bereich stellt Clairefontaine eigene Teams. Bis dahin werden die Auszubildenden an den Wochenenden zurück zu ihren Heimatklubs geschickt. So bleiben sie ihrem Umfeld erhalten, lernen daheim auch, Verantwortung zu übernehmen und sich als Führungsspieler zu entwickeln. Unter der Woche aber trainieren die besten Spieler eines Jahrgangs miteinander, messen sich bei den Übungen und in den Zweikämpfen und können sich neben ihrer schulischen Ausbildung auf Fußball konzentrieren.

Jude Bellingham, einer von Englands Topspielern, sinkt auf die Knie und verdeckt mit seinen Händen das Gesicht.

Enttäuschung bei Englands Jude Bellingham nach dem Aus im Viertelfinale.

Clairefontaine ist eines von 16 über das Land verteilten Ausbildungszentren des Verbandes FFF. Hinzu kommen die Akademien der Profiklubs, von denen manche herausragend arbeiten. Stade Rennes etwa brachte die WM-Fahrer Ousmane Dembélé und Eduardo Camavinga hervor.

Mittlerweile werden Spiele der älteren Jahrgänge in Clairefontaine und den anderen französischen Fußballzentren von einem Heer von Talentscouts beobachtet. Das kluge Ausbildungskonzept und die Wucht an Talenten haben die Wirkung eines Magneten für die Topklubs. Und für Frankreichs Nationalteam die segensreiche Folge einer fabelhaften Auswahl. Die ist so gut, dass sich Deschamps in Katar den Luxus leistet, nur 25 von 26 Kaderplätzen zu besetzen.

So kommt es, dass Moussa Diaby (23) aus Leverkusen, einer der aufregendsten Außenstürmer Europas, nicht Teil der französischen Katar-Delegation ist. Vielleicht denkt sich Deschamps, dass zu viele Hochbegabte nur die Auswahl für die erste Elf erschweren. Der Erfolg spricht ohnehin für sich.