Reiner Calmund spricht im Interview über das Duell Leverkusen gegen Köln, die Entwicklung beider Klubs und die Aussichten.
Manager-Legende CalmundWarum sich Xabis Vita wie eine Speisekarte liest und der FC nicht absteigt
In seinen vielen Jahren als Manager war er mehrfach so nah dran, den ganz großen Coup zu schaffen. Doch am Ende war es Reiner Calmund nicht vergönnt, mit Bayer 04 Leverkusen einmal die Meisterschale in den Händen zu halten. Oft grüßte der Rheinländer mit der Werkself während der Saison von der Tabellenspitze (in seiner Historie schloss Bayer 76 Mal einen Bundesliga-Spieltag als Tabellenführer ab) – um dann am Ende in (un)schöner Regelmäßigkeit doch noch von den Rivalen abgefangen zu werden. Und sei es am letzten Spieltag. Das Vize-Trauma brachte der Werkself schließlich den spöttischen Namen „Vizekusen“ ein.
Jetzt, vor dem Nachbarschaftsduell am Sonntag (15.30 Uhr) gegen den 1. FC Köln, ist Bayer 04 erneut Tabellenführer.
Im Interview spricht der mittlerweile 74-Jährige über das Duell der Rivalen, die Gründe für den Höhenflug der Werkself und die Chancen der Kölner auf den Klassenerhalt. Und erklärt, warum sich Xabi Alonsos Vita wie eine Speisekarte aus dem Baskenland liest.
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Herr Calmund, Sie haben zig Nachbarschaftsduelle oder Derbys erlebt. Doch selten schien die Favoritenrolle so klar verteilt. Der top-verstärkte Spitzenreiter Bayer 04 Leverkusen, der bisher sagenhafte 16 Punkte geholt hat, trifft im eigenen Stadion auf den personell dezimierten 1. FC Köln, der mit nur einem Zähler Vorletzter ist. Erwarten Sie eine einseitige Partie?
Reiner Calmund: Absolut nicht. Die Kölner werden alles nur Erdenkliche in dieses Spiel werfen und kämpfen bis zum Umfallen. Am Sonntag zählen auch der bisherige Saisonverlauf und die aktuellen personellen Probleme des FC nicht so sehr. Und bei allen Beteiligten sind sicherlich auch noch die letzten beiden Derbys in der BayArena im Kopf. Da war die Favoritenrolle zwar nicht so klar verteilt, doch ich erinnere daran, dass der FC diese Duelle in Leverkusen mit 2:1 und 1:0 für sich entscheiden konnte. Für Bayer war die Niederlage im Mai ein herber Rückschlag bei der Aufholjagd im Kampf um Europa. Und im März 2022 verlor Bayer nicht nur das Derby, sondern auch den großen Hoffnungsträger Florian Wirtz, der sich leider einen Kreuzbandriss zuzog.
Aus meiner langjährigen Manager-Tätigkeit habe ich noch am eigenen dicken Leibe erfahren müssen, wie sich Derby-Niederlagen gegen den FC in wichtigen Spielen anfühlen. Am schlimmsten war sicherlich die am 33. Spieltag 1997, als wir nach einem 0:4 in Köln die Meisterschaft vergessen konnten. Am 34. Spieltag wurde Bayern München mit zwei Punkten Vorsprung Meister vor uns. Ich war dennoch zufrieden, zumal wir ein Jahr zuvor in letzter Sekunde gegen Kaiserslautern den Bundesliga-Klassenerhalt geschafft hatten und nun als Vize-Meister sogar in der Champions League mitmischen konnten. Toni Polster hat sich für seinen Dreierpack gegen uns damals bei mir mehr oder weniger entschuldigt, aber kaufen konnten wir uns dafür auch nichts mehr. Um zur Gegenwart zurückzukommen: Ich denke, Bayer ist sich absolut bewusst, dass das am Sonntag gegen den FC kein Spaziergang wird. Dass bei den Duellen zwischen beiden Klubs eine besondere, prickelnde Atmosphäre in der Luft liegt, das muss ich wohl keinem Rheinländer sagen.
Überrascht es Sie, wie schlecht der FC aus den Startlöchern gekommen ist?
Natürlich sind die Abgänge von Jonas Hector und Ellyes Skhiri kaum zu ersetzen. Zählt man noch die aus der Vorsaison, Anthony Modeste und Salih Özcan dazu, ist dem FC eine starke Achse weggebrochen. Die Kölner haben Substanz verloren. Doch ich finde immer noch, dass der FC mit Spielern wie Florian Kainz, Luca Waldschmidt, Davie Selke, Jeff Chabot oder Torhüter Marvin Schwäbe einen ordentlichen Kader hat. Und zwar so ordentlich, dass der FC den Klassenerhalt stemmen müsste. Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster: Obwohl ich Bayer am Sonntag natürlich die Daumen drücke, bin ich überzeugt, dass der FC den Klassenerhalt schaffen wird. Bei uns in der Familie brennt bei den Derbys auch immer der Baum. Meine älteren Kinder sind eingefleischte FC-Fans, meine jüngeren Kinder und Enkel drücken jedoch Bayer 04 die Daumen. (lacht).
Woher nehmen Sie die Überzeugung, dass der FC sich retten kann?
Drei Gründe: die Qualität des Kölner Kaders. Die Mitbewerber um den Klassenerhalt, Bochum, Mainz, Darmstadt, Augsburg, Heidenheim oder Bremen, sind im Grunde nicht besser besetzt. Jedenfalls müsste für den FC schon sehr viel verkehrt laufen, wenn er nicht noch drei Teams hinter sich lassen könnte. Und dann natürlich der Faktor Steffen Baumgart: Die Mannschaft folgt dem Trainer blind. Er hat in den vergangenen zwei Jahren schon so viel aus der Truppe herausgeholt, dass ihm in Köln eigentlich ein Orden verliehen werden müsste. Er wird auch jetzt wieder die Mannschaft auf Kurs bringen.
Aber rächt sich für den FC nicht jetzt, dass der Klub von allen Erstligisten die geringsten Ablösesummen bezahlt und somit viel zu wenig in den Kader investiert hat?
Ich kenne die finanzielle Situation nicht im Detail, als Außenstehender will ich mich da auch nicht groß äußern. Was man aber sagen kann: Dem FC sind da ein Stück weit auch die Hände gebunden. Der Klub hat jetzt zwar einen 12-Millionen-Gewinn präsentiert, aber es geht ja nicht nur um den Gewinn, sondern um die Bilanz. Ein Problem des FC ist ganz sicher, dass in den vergangenen Jahren kaum einmal einen Spieler für einen Batzen Geld verkauft wurde und man somit keine großen Transfereinnahmen generieren konnte. Den Verantwortlichen bleibt jetzt nichts anderes übrig, als Steffen Baumgart zu vertrauen, ihn machen zu lassen und ruhig zu bleiben. Steffen ist kein Zauberer, aber wenn es einer hinbekommt, dann er. Ich bin aus den genannten Gründen auch überzeugt, dass er das schafft.
Auf der anderen Rheinseite ist die Stimmungslage eine völlig andere. Hat Sie Bayer 04 wiederum positiv überrascht?
16 Punkte sind schon eine sagenhafte Ausbeute. Und der einzige Nicht-Sieg, das Unentschieden bei den Bayern, ist wie ein Sieg für Leverkusen zu werten. Denn aufgrund der Länderspielpause zuvor war es für Bayer noch mehr ein Wettlauf mit der Zeit als für die Bayern. Die Leverkusener sind nach der späten Rückkehr der Nationalspieler schließlich erst am Spieltag nach München gereist. Die Bayern konnten bei diesem Match dagegen ausgeruhte Nationalspieler wie Kim, Davies, Goretzka und Musiala bringen, selbst Kimmich hatte noch eine mehrtägige Regenerations-Pause.
Was sind die Gründe für den Höhenflug der Leverkusener?
Die Verantwortlichen um Klubchef Fernando Carro und Sportchef Simon Rolfes haben bei der Kaderplanung verdammt viel richtig gemacht, mit Xhaka, Grimaldo, Hofmann oder Boniface haben sie Spieler mit Erfahrung, der richtigen Mentalität und natürlich mit Klasse geholt. Man hat da sicherlich die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Ihr größter Coup war aber sicherlich, dass sie Xabi Alonso als Trainer verpflichtet haben. Insgesamt gesehen kommt deshalb der Höhenflug nicht ganz so überraschend. Wichtig ist, dass auch die zweite Reihe bei Bayer – ob im Management, Trainer-Stab oder Spielerkader – top besetzt ist.
Vizekusen – diese Verballhornung kennen Sie aus eigener Erfahrung. Hat Bayer 04 in dieser Saison die Chance auf den ganz großen Coup?
Ja, Bayer 04 muss sich mit diesem Kader vor keinem verstecken. Top-Favorit auf den Titel bleiben für mich die Bayern, aber Leverkusen hat den Rückstand deutlich aufgeholt. Bayer 04 hat mindestens eine 25-prozentige Chance auf den Titel. 25 Prozent, weil auch Dortmund und Leipzig neben den Bayern Titelkandidaten sind. Ich sehe Bayer jedoch noch etwas vor dem BVB und Leipzig. Für die Fußballfans in Deutschland ist es doch klasse, dass gleich vier Mannschaften um den Titel mitspielen können. Das gab es in den vergangenen Jahren nicht und steigert ganz klar die Attraktivität der Bundesliga.
Alonsos Wirken verfolgen natürlich auch die ganz großen Klubs wie sein Ex-Verein Real Madrid. Und nach der Saison ist er dann weg?
Das wird sich zeigen. Bayers Verantwortliche haben es erst einmal geschafft, den Vertrag mit ihm zu verlängern. Man vertraut sich untereinander und glaubt gemeinsam an dieses Projekt. Man sieht Xabis Handschrift, wie man sie deutlicher nicht sehen kann. Die Spieler schauen zu ihm auf, zum Trainer Alonso, aber auch zum ehemaligen Weltklassespieler Alonso, der eine ungemeine Ausstrahlung hat. Bei den Bayer-Heimspielen sitzen seine Frau und seine Kinder direkt vor mir, ich sehe, was für eine beeindruckende Familie das ist: kein bisschen abgehoben, ungemein freundlich, intelligent. Xabis Vita liest sich wie die Speisekarte eines Sterne-Restaurants aus einer Heimat rund um Bilbao und San Sebastian. Nach den WM- und EM-Titeln mit Spanien, den Champions-League-Erfolgen mit Liverpool und Real Madrid und zuletzt auch seinen drei Meistertiteln mit Bayern München wird Xabi Alonso jetzt auch eine ganz große Trainerkarriere hinlegen – da bin ich mir absolut sicher.