Leverkusen – Rudi Völler hatte am Freitagmorgen nicht viel Zeit, seine Gedanken nach der 3:4-Niederlage in Bern zu sortieren. Mit dem Tross von Bayer 04 Leverkusen war er erst spät in der Nacht auf dem Flughafen Köln-Bonn gelandet. Mittags fuhr er bereits in seine Heimatstadt Hanau, um an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des ausländerfeindlichen Terroranschlags teilzunehmen, der am 19. Februar 2020 neun Menschen das Leben gekostet hatte.
Dennoch hatte Völler eine klare Einordnung des turbulenten Europa-League-Spiels in der Schweiz. „In der ersten Halbzeit haben wir ganz schlecht verteidigt, aber die zweite haben wir dominiert und uns unglaublich viele Chancen herausgespielt, dass wir dennoch das vierte Gegentor bekommen, passt ein wenig zum Spiel und zur Situation“, sagte der Geschäftsführer Sport von Bayer 04 dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Dennoch, bei allem Respekt für Bern, habe man „sehr gute Chancen, im Rückspiel mit einem Sieg weiterzukommen“.
Hinter dieser zurückhaltenden Umschreibung eines peinlichen Zusammenbruchs, der für Bayer 04 zu einem 0:3-Halbzeitrückstand führte, steckte natürlich das Wissen um die Problematik des Klubs, der bei weiteren Rückschlägen dieser Art seine Saisonmarken aus den Augen verlieren wird. „Wir bekommen zu viele Gegentore“, sagt Rudi Völler. Man könnte auch sagen: Sie gewinnen zu wenige Spiele. Von den letzten zwölf Pflicht-Partien hat Bayer 04 nur drei gewonnen, dagegen sieben verloren. Die Unentschieden gegen Werder Bremen (0:0) und Mainz (2:2 nach 2:0-Führung) fühlten sich auch wie Niederlagen an.
Die ambitionierten Ziele, zu denen Klubchef Fernando Carro nach dem blamablen DFB-Pokal-Aus gegen Rot-Weiss Essen von jedem einzelnen Spieler ein Bekenntnis eingefordert hatte, sind stark gefährdet. In der Liga ist Bayer 04 vor dem Spiel beim FC Augsburg (Sonntag, 13.30 Uhr/Dazn) auf Platz fünf abgerutscht. In der Europa League verhindert nächsten Donnerstag nur ein Rückspiel-Sieg mit weniger als drei Gegentoren sicher das Aus.
Rudi Völler verweist, seinem Naturell entsprechend, darauf, dass er während des Hochs in der Vorrunde nicht zu Überschwänglichen gehörte: „Ich habe nach sechs Siegen in Folge nicht gesagt, dass wir die Bundesliga beherrschen. Und ich sage jetzt nicht, dass alles schlecht ist. Wir wurden in der Hinrunde von vielen vielleicht etwas zu sehr in den Himmel gehoben. Und jetzt werden wir etwas schlechter gemacht, wie das halt immer so ist.“
Der Weltmeister von 1990 weiß, dass nicht alle bei Bayer 04 in seiner Tonlage sprechen. Dennoch ist ihm klar, was von ihm, Trainer Peter Bosz, Sportdirektor Simon Rolfes, der ganzen Abteilung und der Mannschaft verlangt wird: „Unser Ziel ist mindestens Platz vier und die Champions-League-Qualifikation, das ist doch klar. Aber dieses Ziel haben andere Vereine auch, ganz realistisch. Das Aus im Pokal war natürlich bitter. Das ist der Wettbewerb, bei dem wir als Bayer Leverkusen immer ins Finale kommen wollen. Jetzt haben noch zwei Wettbewerbe, und da wollen und werden wir versuchen, vieles richtig zu machen.“
Dass sich ein Desaster wie die erste Halbzeit im Berner Wankdorfstadion nicht wiederholen darf, steht auch für Völler außer Frage. Trainer Peter Bosz hatte aus jedem Mannschaftsteil den stärksten Spieler auf die Bank gesetzt – Verteidiger Tapsoba, Mittelfeldmann Aránguiz und Angreifer Diaby – und gehofft, der Rest werde sich ohne gelernten defensiven Mittelfeldspieler gegen die Übermannschaft der Schweiz mit einem Offensivfeuerwerk durchsetzen. Ein kolossaler Irrtum, wie sich herausstellte. Mit einer einzigen personellen Änderung – Edmond Tapsobas Einwechslung und Umstellung auf Dreierkette in der Abwehr – bekam das Leverkusener Spiel Halt, und die Offensivstärke schlug sich in Toren nieder. Allerdings hätte Bayer 04 mehr als die drei Treffer durch Patrik Schick (2) und Moussa Diaby erzielen müssen, dann hätte der Aussetzer kurz vor Schluss auch nicht zu einer Niederlage geführt.
Dass seine Arbeit nun bei jedem weiteren ausbleibenden Sieg in Frage gestellt wird, lässt Trainer Peter Bosz äußerlich unberührt. Er hat am Freitag noch einmal in stundenlangem Videostudium das Versagen von Bern aufgearbeitet. Resultat: „Ich habe auf Video dieselben Fehler gesehen, die ich auch während des Spiels gesehen habe.“ Eine echte Erklärung hatte er immer noch nicht. Mit der Selbstkritik nach Spielende („Es liegt in meiner Verantwortung“) hat er den Unfall in der ersten Halbzeit auf seine Kappe genommen. Einen Automatismus dafür, dass jetzt alles gut wird, gibt es nicht, zumal Torhüter Lukas Hradecky mit seiner schmerzhaften Fersenverletzung auch gegen Augsburg ausfällt.
Rudi Völler stärkt Trainer Bosz den Rücken, gibt ihm allerdings einen dezenten Hinweis, wenn er sagt: „Tore erzielen wir viele, alleine in den letzten drei Spielen zehn. Aber das Problem mit den Gegentoren müssen wir in den Griff bekommen, dann werden wir, ich glaube fest daran, unsere Ziele erreichen.“