Leverkusen – Die Szene des Spiels ereignet sich in der 51. Minute, und sie wirkt wie eine pantomimische Darstellung einer Krise, die niemand kommen sah bei Bayer 04 Leverkusen. Der Werksklub liegt gegen die TSG Hoffenheim mit 0:2 Toren in Rückstand. Christoph Baumgartner (9.) und Andrej Kramaric (35.) hatten ihre Mannschaft mit wunderschönen, aber von Bayer 04 assistierten Treffern in Führung gebracht. Und die Werkself erlebt direkt nach dem Seitenwechsel ein kurzes Hoch. Moussa Diaby und Patrik Schick finden zu einem Moment des Zusammenspiels, der Mittelstürmer schießt den Ball aus 16 Metern aufs Tor.
Zwischen dem heranfliegenden Spielgerät und der Linie befindet sich allerdings der Kollege Sardar Azmoun, der eine Woche zuvor beim 1:2 gegen den FC Augsburg einen gefühlten Weltrekord im Auslassen klarsten Torchancen aufgestellt hatte. Wenn er in dieser Sekunde nur auf der Stelle verharrt hätte, wäre Patrik Schick das erste Tor der Saison gelungen. Auf der Anzeigetafel hätte plötzlich 1:2 als Resultat gestanden. Und wer weiß, was dann mit den Hoffenheimern passiert wäre.
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Doch Azmouns Fuß zuckt nervös nach vorn und hindert den Ball am Überschreiten der Linie. 27 Minuten später erzielt der Franzose Georginio Rutter mit einem fulminanten Schuss das 3:0. Der schlechteste Saisonstart in der Geschichte von Bayer 04 Leverkusen war perfekt. Dem Aus im Pokal beim Drittligisten SV Elversberg folgten drei Niederlagen in der Bundesliga. Ein in der Geschichte von Bayer 04 einmaliger Vorgang.
Die Hoffenheimer verzichteten darauf, sich nach dem Spiel beim Kollegen Azmoun für dessen tätige Hilfe zu bedanken. Sie waren vor den wenigen mitgereisten Fans mit ihrer eigenen Freude beschäftigt. Bei Bayer 04 begann direkt nach dem Schlusspfiff der Umgang mit einer Krise, deren Folgen derzeit noch nicht absehbar sind. Trainer Gerardo Seoane bekannte: „Es ist ein schwieriger Moment für uns als Klub und für mich persönlich.“ Seine Chefs wollten es ihm erst einmal noch nicht schwerer machen. Klubchef Fernando Carro erklärte gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ seine Loyalität zum Schweizer, der am 1. Juli 2021 nach Leverkusen gekommen war. „Gerardo Seoane ist der richtige Trainer. Davon sind wir hundertprozentig überzeugt. Wir haben großes Vertrauen in diese Konstellation. Natürlich ist es seine Aufgabe, aber auch die der ganzen Mannschaft und von uns allen, die in der Verantwortung stehen, da gemeinsam rauszukommen“, sagte der Sprecher der Geschäftsführung von Bayer 04.
Diese Krise trifft den Werksklub bis ins Mark. Die Auslosung der Champions-League-Gruppenphase am Donnerstag in Istanbul hätte ein kleines Fest werden sollen. So wird sie zur schmerzhaften Markierung der Fallhöhe des Absturzes.
„Es hätte sich niemand träumen lassen bei uns, dass wir die ersten vier Pflichtspiele verlieren. Zurzeit sind wir in einer Abwärtsspirale“, erklärt Fernando Carro, der als Vorstandsmitglied der mächtigen European Club Association (ECA) eine gewichtige Stimme im europäischen Klub-Fußball hat. Derzeit liegt der Fokus aber auf dem Tabellenkeller der Bundesliga. Der Spanier analysiert: „Das Selbstvertrauen der Spieler ist nicht das Größte. Daran müssen wir arbeiten, um das Vertrauen in die eigene Stärke zurückzugewinnen. Jeder von uns steht in der Verantwortung, dazu seinen Beitrag zu leisten.“
Benötigt wird ein Tritt in den Hintern
Etwas mehr als alle anderen steht aber der Trainer in der Verantwortung. Gerardo Seoane galt bei Bayer 04 im Erfolg als aufgeklärter Kopf eines Trainer-Teams, der auf tradierte Verhaltensmuster des Zampano am Spielfeldrand bewusst verzichtet. Allerdings hat die von allen verschuldete Pokal-Schmach einen Zusammenbruch ausgelöst, dem bislang vor allem Analyse der Fehler und Behutsamkeit in der täglichen Arbeit gegenüberstanden. Es entsteht jedoch der Verdacht, dass dieses Problem mit den Mitteln des digitalen Fußball-Zeitalters erst zu lösen sein wird, wenn ein Computer imstande ist, verwirrte Fußball-Profis durch einen Tritt in den Hintern aufzuwecken.
Indizien für die Desintegration dieser einstigen Mannschaft gab es im Spiel gegen Hoffenheim zuhauf. Sowohl zwischen den Mannschaftsteilen als auch zwischen den Profis gab es physisch und emotional riesige Abstände. Der Trainer wechselte im System mehrfach zwischen 4-4-2 und 3-5-2. Wenn ein Spieler unter Druck geriet, war keiner da, der ihm half. Hinterher wurde Selbstkritik geübt. „Jeder muss bei sich selbst anfangen, mit den einfachsten Dingen“, sagte Jonathan Tah. Das hatte er aber auch eine Woche zuvor beim 1:2 gegen Augsburg gesagt.
Die nächsten Gegner sind von der Sorte, die als Vorbild dienen kann. Mainz 05 und der SC Freiburg gehören zu den kampfstärksten, unbeugsamsten und loyalsten Teams der Liga. Gegen sie soll die Wende gelingen. Wie, bleibt erst einmal schleierhaft.