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Frauen-EMDeutschland ist plötzlich Turnierfavorit

Lesezeit 4 Minuten
Frauen-EM Jubel

Jubel bei Marina Hegering (l.) und Alexandra Popp

London – London mag ja unendlich viele Vorzüge haben, von der Sonne verwöhnt ist die englische Hauptstadt eher nicht. Umso mehr haben die Menschen ein Wochenende mit wolkenlosem Himmel und Temperaturen jenseits der 30 Grad genossen, wobei es die Einheimischen dann eher nicht nach South Bank mit seinen Sehenswürdigkeiten am Themse-Ufer zieht. Stattdessen strömen viele raus an die Riverside in Richmond, wo sich abseits des touristischen Trubels das Leben noch viel liebevoller gestaltet. Nicht weit weg auf der anderen Flussseite liegt der Syon Park, in dem das deutsche Frauen-Nationalteam wohnt. Und eitel Sonnenschein herrscht auch hier beim großen DFB-Tross.

Präsident Bernd Neuendorf hielt in der Nacht zu Samstag bei Pommes und Burger nach dem rauschhaften 4:0 gegen Dänemark eine Dankesrede und kündigte eine weitere Unterbrechung seines Urlaubs zu einem möglichen Halbfinale an, die Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg spendierte einen freien Nachmittag, ehe am Sonntagmorgen auf dem Gelände des Grashoppers Rugby Football Club mit feinem englischen Rasen wieder trainiert wurde. Gilt es doch, die erste Gala im zweiten Gruppenspiel gegen Spanien (Dienstag 21 Uhr/ARD) im erneut ausverkauften Community Stadium von Brentford zu bestätigen. Spanien habe zwar eine „super Mannschaft“, sagte die Bundestrainerin aber: „Wir haben gezeigt, dass wir richtig was können.“

Neues Selbstverständnis der DFB-Elf

Mit Nadine Keßler, Abteilungsleiterin Frauenfußball bei der Uefa, oder Ralf Kellermann, dem Sportlichen Leiter des VfL Wolfsburg, zeigten sich auch jene Fachleute schwer beeindruckt, die auf der Insel von Spiel zu Spiel hoppen. Das als Wundertüte bezeichnete DFB-Team mit seinem Mix aus den besten Kräften des FC Bayern und VfL Wolfsburg legte einen perfekten Auftritt hin, der den zur Delegation gehörenden Joti Chatzialexiou ins Schwärmen brachte: „Es war tatsächlich das beste Spiel, was ich von unserer Mannschaft in meiner sportlichen Verantwortung bisher gesehen habe“, sagte der Sportliche Leiter Nationalmannschaften. Die rechte Hand von DFB-Direktor Oliver Bierhoff hatte Anfang 2018 die Frauen erstmals zu einem Einladungsturnier in die USA begleitet. Seine erste Amtshandlung war die sofortige Ablösung der überforderten Bundestrainerin Steffi Jones.

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Nun hat ihre Nachfolgerin Voss-Tecklenburg – nach einer Übergangsphase unter Horst Hrubesch – die erste echte Bewährungsprobe nach der missglückten WM 2019 in Frankreich grandios gemeistert. Was Chatzialexiou besonders gefiel: „Wir haben endlich auch mal sehr selbstbewusst Fußball gespielt.“ Man solle nun bloß weiter „mit einem Selbstverständnis spielen, dass wir die Mannschaft sind, die entscheidet, wer hier Europameister wird“. Das war mal eine Ansage aus dem Medienhotel am Grand-Union-Kanal. Im Duell „zweier Titelanwärter“ erwartet der 46-Jährige „eine große Werbung für den Frauenfußball“.

Lobeshymnen auf Deutschland

Der Respekt vor dem achtfachen Europameister ist nach diesem katapultartigen EM-Start enorm gewachsen. Die Experten bei der BBC überschlugen sich mit Lobeshymnen auf eine deutsche Elf, die immense Lust verspürte, nicht nur kreativ mit dem Ball, sondern auch aktiv gegen den Ball zu arbeiten. Besonders beliebt: grätschen in der gegnerischen Hälfte. Und so stellte Voss-Tecklenburg neben einem „großartigen Teamwork und super Umschaltspiel“ speziell die „große Defensivlust“ heraus. Ihr Matchplan gegen einen fahrigen Vize-Europameister von 2017 ging auf. Das Pressing funktionierte so gut wie noch nie. Das erste EM-Tor der zu Tränen gerührten Anführerin Alexandra Popp als Einwechselspielern fügte sich in ein harmonisches Gesamtbild. „Wir haben das Gefühl, wir können alle 23 Spielerinnen reinwerfen – das ist eine tolle Basis“, sagte Voss-Tecklenburg.

Dienstagabend gegen Spanien

Die 54-Jährige wirkte hernach unendlich erleichtert; von der Powerfrau vom Niederrhein fiel riesiger Ballast ab. Sie erklärte, wie wertvoll die Vorbereitung mit drei Trainingslagern war. Endlich einmal genug Zeit, um ohne jede Rücksichtnahme auf Vereinsinteressen, ohne Ausfälle und bei nur einem einzigen Corona-Fall (Popp) zu üben. „Die Zeit in Herzogenaurach mit vielen Gesprächen hat dazu geführt, dass dieses Team in sich unheimlich gewachsen und gefestigt ist.“

Diese Stabilität wird es nicht nur gegen Spanien brauchen, sondern auch in einem möglichen Viertelfinale gegen Norwegen oder England. Es gibt inzwischen sogar aus dem deutschen Lager erste Stimmen, dass es auf dem Weg nach Wembley zum Endspiel am 31. Juli gar nicht so verkehrt wäre, früh gegen den Gastgeber England anzutreten. Nur die mit der Kapitänsbinde bedachte Svenja Huth trat ein bisschen auf die Bremse: „Bei aller Euphorie und aller Freude – und ich bin wirklich sehr, sehr stolz auf meine Mannschaft: Wir sind noch ganz am Anfang.“ Dunkle Wolken ziehen über London oft in Windeseile auf.