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Ein Jahr Corona-Skandal bei TönniesErste Reformen im Schweine-System

Lesezeit 4 Minuten
Tönnies Kuh

Nur noch Geschichte: Das Logo der Firma Tönnies, in Form von einem Bullen, einer Kuh und einem Schwein, wurde vom Dach des Firmenkomplexes vor ein paar Wochen entfernt.

Gütersloh – „Mein Vertrauen ist auch nicht mehr da“, sagt Sven-Georg Adenauer (CDU), Landrat des Kreises Gütersloh, nach dem massenhaften Ausbruch des Coronavirus im Großschlachtbetrieb von Clemens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Es ist der 17. Juni 2020, als Adenauer 7000 Beschäftigte in Quarantäne schicken muss. Kindergärten und Schulen müssen schließen, die Sieben-Tage-Inzidenz steigt auf knapp 300. Mehr als eine halbe Million Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf müssen in den Lockdown und bangen um ihre Sommerferien, weil man sie als Urlauber nirgendwo mehr haben will.

Mit einem Schlag diskutiert Deutschland über eine Branche, die mit einem System von Werkvertragsarbeitern im Akkord Billigfleisch produziert. 150 000 Schweine pro Woche allein in Rheda-Wiedenbrück, 20 Millionen pro Jahr. Unter katastrophalen Bedingungen.

Erster Ausbruch im Mai bei Westfleisch in Coesfeld

Bereits im Mai 2020 war es bei Westfleisch in Coesfeld zu einer ersten Masseninfektion in einem Tönnies-Betrieb bekommen. Doch Konzernchef Clemens Tönnies geht in die Offensive, warnt in einem Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dass „ein generelles Verbot von Werkverträgen in der Fleischwirtschaft massive, strukturell-negative Veränderungen für die Agrarwirtschaft zur Folge“ hätte.

Die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen sind auch der NRW- Landesregierung im Juni 2020 schon länger bekannt. Im Dezember 2019 hat Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) unter dem Titel „Faire Arbeit in der Fleischindustrie“ den Abschlussbericht einer Überwachungsaktion vorgelegt, bei der zwischen Juli und September insgesamt landesweit 30 Betriebe samt der in der Produktion eingesetzten 90 Werkvertragsfirmen überprüft wurden, die für 17000 Arbeitnehmer verantwortlich sind.

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Das Ergebnis ist verheerend. 85 Prozent der Betriebe weisen gravierende Mängel auf. Vor allem bei den Arbeitszeiten kommt es zu mehr als 5800 Verstößen, teilweise müssen Beschäftigte mehr als 16 Stunden an einem Tag arbeiten, in 2400 Fällen gibt es keinerlei arbeitsmedizinisch Vorsorge.

Doch erst nach dem Corona-Ausbrauch bei Tönnies wird der politische Druck so hoch, dass alles auf einmal ganz schnell geht. Im Rekord-Tempo zieht die Bundesregierung Konsequenzen, verbietet mit Beginn des Jahres 2021 das Werkvertragssystem in Teilen der Branche. Seit 1. April ist auch die Leiharbeit untersagt.

Werkvertragsunternehmer haben jetzt Beraterverträge

Bis Ende 2020 stocken daher die großen Firmen Tönnies (Umsatz 7,3 Milliarden Euro 2019), Vion (5,1) und Westfleisch (2,8) ihre Stammbelegschaft um insgesamt rund 12 300 Mitarbeiter auf. Anfang Juni vermeldeten Gewerkschaft und Fleischindustrie die Einigung auf einen Mindestlohn. Die Lohnuntergrenze liegt bei 10,80 Euro und soll bis 1. Dezember 2023 auf 12,30 Euro angehoben werden. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 9,50 Euro und steigt bis zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro.

Das seien zweifelsohne wichtige Schritte, das grundsätzliche Problem damit aber längst nicht gelöst, sagt Peter Berke vom Institut für Soziologie der Universität Göttingen. Die Großunternehmen hielten sich zwar formal an die neuen Gesetze, die ehemaligen Leiharbeiter seien aber weiterhin „vielen Übergriffen ihrer Vorgesetzten ausgeliefert“. Die Ex-Werkvertragsunternehmen „haben jetzt Beraterverträge und schicken immer noch ihre Kolonnen herum. Es kommt vor, dass die Arbeiter gezwungen werden, sich auszustempeln, wenn das Band kaputt ist und drei Stunden repariert werden muss“, so Berke.

Arbeitsschutzkontrolle ist sehr eng gefasst

Das Gesetz zur Arbeitsschutzkontrolle sei sehr eng gefasst und führe dazu, dass die neuen Berater sich andere Wege suchen, um an den jetzt festangestellten Beschäftigten zu verdienen. So würden die früheren Werkswohnungen, für die die Vermittler zuständig waren, in Privatwohnungen umgewandelt. Die Folge: „Die für den Arbeitsschutz Kontrolleure dürfen sie nicht mehr betreten, wegen der Unverletzlichkeit der Wohnung“, sagt Berke. Durch die Wohnungsknappheit hätten „diese Pseudo-Vermieter eine unheimliche Macht“.

200 bis 300 Euro Miete für ein Bett in einer Wohnung mit fünf oder sechs Schlafstellen seien durchaus üblich. Berke fürchtet, dass die Branche nach Corona wieder aus dem Blickfeld geraten könne. „Der Skandal wird in der Öffentlichkeit vor allem im Zusammenhang mit der Infektion gesehen. Ich fürchte, wenn Corona verschwindet, hat er sich auch erledigt.“

50 Anzeigen gegen Tönnies und die Geschäftsführung

Die juristische Aufarbeitung des Corona-Ausbruchs bei Tönnies ist noch lange nicht abgeschlossen. Der Staatsanwaltschaft Bielefeld liegen etwa 50 Anzeigen gegen die Geschäftsführung und den Firmenchef wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz vor. Der Tönnies-Konzern klagt vor dem Verwaltungsgericht Minden gegen die Schließungsverfügung des Werks in Rheda-Wiedenbrück, muss aber noch die Klagebegründung liefern und hat deshalb Akteneinsicht in die Verwaltungsvorgänge des Kreises Gütersloh beantragt.

Zwischen der Fleischindustrie und dem Land hatte sich ein Streit um die Erstattung von Verdienstausfall entwickelt. Das Gesundheitsministerium hatte den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) angewiesen, entsprechende Anträge abzulehnen. Laut Infektionsschutzgesetz können Betriebe Entschädigungen beantragen, wenn die Unternehmen durch die Behörden geschlossen wurden. Daraufhin erreichte die Verwaltungsgerichte eine Klagewelle. In Minden und Münster sind es den Angaben nach jeweils mehrere Hundert Fälle. Um der Masse der Verfahren Herr zu werden, einigten sich die Beteiligten in Minden auf ein Musterverfahren. In Münster wird derzeit sondiert und in Absprache mit den Unternehmen nach vergleichbaren Fällen gebündelt. (mit dpa)