AboAbonnieren

Interview„Es gibt diese Tendenz, menschliche Normen auf Tiere anzuwenden“

Lesezeit 7 Minuten
Illustration: Bären in schicker Kleidung sitzen an einer sommerlichen Tafel in einem Garten am Meer.

Julia Gutjahr: „Ob es böse Tiere gibt, ist aus soziologischer Sicht eine schwierige Frage.“

Gute Tiere, böse Tiere? Waschbären und Wildschweine rücken dem Menschen immer näher. Die Soziologin Julia Gutjahr über die Beziehung von Mensch und Tier, und die Kriterien, mit denen wir Natur bewerten.

Bärin Gaia darf weiterleben - vorerst. Sie hatte einen Jogger angegriffen und getötet. Die Provinzregierung Trentino-Südtirol hatte einen Abschussbefehl gegeben. Ein Gericht setzte diesen Befehl jedoch bis zum 27. Juni aus und gab aber dem Einspruch von Tierschützern statt. Die Richter vermissen „ausreichenden Untersuchungen“ der unterstellten Gefährlichkeit des Wildtieres. Aktivisten kämpfen für die Freilassung von Gaia, die eingefangen und in einem Gehege untergebracht wurde, und versuchen sogar, ihre „Unschuld“ zu beweisen. Was sagt es über uns Menschen aus, wenn wir Tiere bestrafen oder unbedingt retten wollen?

Die Soziologin Julia Gutjahr von der Universität Hamburg ist auf die Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen spezialisiert.


Frau Gutjahr, die Bärin Gaia hat mehrfach Menschen angegriffen und soll getötet haben. Gibt es gute und böse Tiere? Und wenn nicht, warum empfinden Menschen das so?

Alles zum Thema Letzte Generation

Julia Gutjahr: Ob es böse Tiere gibt, ist aus soziologischer Sicht eine schwierige Frage. Dieses Konzept ist bereits unter uns Menschen nicht immer eindeutig: Welcher Mensch ist böse und welcher gut? Das hängt auch vom kulturellen und historischen Kontext ab. Die neuere verhaltensbiologische Forschung geht dem Ansatz nach, inwieweit bestimmte intelligente Tiere wie einige Vögel ansatzweise als moralische Akteure verstanden werden können und zum Beispiel zum Altruismus in der Lage sind. Eigentlich können wir aber davon ausgehen, dass Tiere ihr Verhalten nicht moralisch reflektieren und an Normen ausrichten können.

Wir neigen dazu, bestimmte Tiere anders wahrzunehmen, auch wenn die reale Gefahr für Menschen durch sie gering ist. Jeder hat Angst vor Haien, dabei töten herabfallende Kokosnüsse mehr Menschen.

Aus soziologischer Sicht kann man sagen, dass es Zuschreibungen von Eigenschaften an bestimmte Spezies gibt. Das kann wegen einer realen Gefahr wie der Übertragung von Zoonosen so sein, aber auch einfach wegen kultureller Ideen, die sich wandeln und je nach Kultur unterscheiden können. Katzen galten im Mittelalter aufgrund eines verbreiteten Aberglaubens als böse und Symbol für Hexerei. Es gab damals richtige Katzenmassaker, Anfälle von kollektiver Gewalt gegen sie. Heute sind Katzen geliebte Heimtiere. Zur aktuellen Debatte um Bären und Wölfe lässt sich sagen: Wölfe wurden im Laufe der westlichen Kulturgeschichte, also im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, dämonisiert. In bestimmte indigenen Kulturen Nordamerikas zum Beispiel ist das aber interessanterweise ganz anders. Wenn nun Einzelfälle wie jetzt der Fall der Bärin Gaia skandalisiert werden, liegt das sicher auch daran, dass es mediale Aufmerksamkeit verspricht und politisch als Wahlkampfthema genutzt werden kann. Ein Phänomen, das wir auch bei Gewalt unter Menschen beobachten.

Die Debatte um Problembären wie Gaia oder damals ihren Bruder Bruno wird sehr emotional geführt. Woran liegt das?

Einerseits werden hierbei reale Interessen von Menschen berührt, wie etwa von Bauern, die Angst um ihre Weidetiere haben, oder Menschen, die in der Region leben und sich fürchten. Trotzdem gibt es natürlich viel größere Gefahren für Menschen wie etwa Verkehrsunfälle, die aber für weniger Aufsehen sorgen. Es handelt sich wohl auch um einen kulturellen Konflikt. Es gibt unterschiedliche Einstellungen gegenüber Tieren. Wir wissen aus Studien, dass bestimmte Gruppen eher die Idee von Tierrechten unterstützen als andere. Bildung, persönliche Erfahrungen mit Tieren und Geschlecht sind zum Beispiel Faktoren. Auch Stadt-Land-Unterschiede spielen eine Rolle. Viele Stadtbewohner haben oft eine emotionalere Beziehung zu Tieren und haben eher die Vorstellung, dass diese auch Rechte haben. Bei der Landbevölkerung ist das etwas weniger verbreitet, denn hier gibt es auch mehr Kontakt zu Nutztieren, die eher unter ökonomischen Aspekten betrachtet werden. Gleichzeitig sind wilde Tiere für die Landbevölkerung ein Problem, wenn sie Weidetiere hält.

Die Bärin Gaia wurde lebend gefangen und stellt keine Gefahr mehr dar. Trotzdem besteht ein Regionalpolitiker darauf, sie zu töten. Warum wollen Menschen ein Tier bestrafen?

Solch ein Tier zu töten, erscheint zunächst als einfache Lösung und weniger aufwendig, als es einzufangen und langfristig unterzubringen. Es handelt sich aber wohl auch um eine symbolische Lösung: Die normative Ordnung soll dadurch wiederhergestellt werden, zum Beispiel in dem Sinne, dass der Mensch über dem Tier steht. In menschlichen Gesellschaften soll eine Strafe immer auch eine soziale Funktion haben, sie soll abschrecken und bei den Bestraften eine Besserung herbeiführen. Bei Tieren macht all das keinen Sinn. Sie sind nicht schuldfähig und wissen überhaupt nicht, dass sie gegen eine Norm verstoßen haben. Warum Menschen trotzdem ein Rachebedürfnis auf ein Tier projizieren, müsste man im Einzelfall vielleicht auch psychologisch analysieren. Früher gab es das besonders absurde Phänomen der „Tierprozesse“. Darin wurden zum Beispiel Ratten dafür verurteilt, dass sie angeblich die Ernte verdorben hatten.

Der größte Verursacher vom Leid der Nutztiere ist natürlich der Mensch
Julia Gutjahr

Die einen setzen sich für das Recht von Wölfen und Bären auf ein Leben in der freien Natur ein. Manche Gegner dieser Idee stellen dem nun das „Leid von Nutztieren“ gegenüber, die von Wölfen gerissen werden.

Diese in Einzelfällen laut werdende moralische Empörung über das Leid der Nutztiere durch Bären und Wölfe ist etwas seltsam. Denn der größte Verursacher vom Leid der Nutztiere ist natürlich der Mensch. Andererseits zeugt es aber auch von moralischer Inkonsistenz, wenn jemand große Sympathie für charismatische Wildtiere wie Bär oder Wolf an den Tag legt, aber weniger für Nutztiere, die er täglich isst. Es ist einfacher zu sagen, ich möchte nicht, dass ein Bär getötet wird, als auf das Essen von Nutztieren zu verzichten. Viele pflegen ein inniges Verhältnis zu ihrem Hund oder ihrer Katze.

Einige Aktivisten der Letzten Generation hingegen sagen, dass Haustiere überflüssig sind und dem Klima schaden. Dabei ist ihr Ziel, der Naturschutz und auch die Artenvielfalt zu erhalten. Es ist verwirrend. Tatsächlich ist die Position, Haustierhaltung abzulehnen, gar nicht so neu in der Tierrechtebewegung. Viele finden, man sollte Haustiere nicht weiter züchten. Heimtierhaltung ist immer auch eine Machtausübung, die Tiere sind das Eigentum der Menschen. Zudem entstehen durch die Haustierzucht immer wieder Krankheitsbilder bei Tieren. Neu ist vielleicht nur das ökologische Argument. Im Übrigen ist Klimaschutz aber auch nicht gleichzusetzen mit einem Einsatz für Tierrechte, selbst wenn es Überschneidungen gibt.

Wurden Haustiere früher schlechter und Nutztiere früher besser behandelt als heute?

Bei der Nutztierhaltung gibt es ganz klar einen exponentiellen Anstieg der Gewalt gegen Tiere, und zwar allein schon deshalb, weil heute so viel mehr Nutztiere gehalten werden. Außerdem gibt es heute Zuchtziele und Haltungsbedingungen, unter denen Tiere mehr leiden. In einigen Bereichen gibt es aber auch Verbesserungen, zum Beispiel gibt es in der Rinderhaltung keine dauerhafte Anbindehaltung mehr. Heimtiere werden heute immer mehr als Individuen gesehen.

Irene Habich

Irene Habich

mehr

Es gibt diese Tendenz, menschliche Normen auf Tiere anzuwenden, sie wie Familienmitglieder zu behandeln, ihre Geburtstage zu feiern und sie sogar professionell bestatten zu lassen. Gleichzeitig gibt es auch Züchtungen, die der Gesundheit der Heimtiere schaden, und viele Fehler bei der Unterbringung, die oft nicht artgerecht ist. Es ist etwas widersprüchlich. Was jedenfalls klar ein Phänomen der Moderne ist, ist diese unterschiedliche Betrachtung, diese Trennung und Einteilung von Heim- und Nutztieren nach ihrer Funktion. Das gab es früher weniger.

Wird sich das Verhältnis von Menschen zu Tieren in der Zukunft so weit verändern, dass wir irgendwann gar kein Fleisch mehr essen?

Es gibt bereits einen Rückgang beim Fleischkonsum und die Tendenz wird weiter zunehmen. Die Tierrechtsbewegung wird weiter erstarken, und ihre Ideen verbreiteter werden. Ich halte es theoretisch für möglich, dass in der Zukunft die Mehrheit der Menschen auf Fleisch verzichten wird, zumindest in den Industrienationen. Und zwar vor allem deshalb, weil dort Alternativen zur Verfügung stehen werden, die genauso gut schmecken und günstiger sein werden.

Es wird aber immer auch Menschen geben, die lieber echtes Fleisch essen, und es wird natürlich auch Widerstände geben. Schon weil Fleischkonsum auch eine symbolische Komponente hat und von manchen mit Männlichkeit gleichgesetzt wird. Und es wird sicher lange auch noch die Jagd geben. Für die Soziologie sind dieser soziale Wandel und auch die Konflikte, die sich abzeichnen, äußerst spannend. (RND)


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.