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Kommentar

Kolumne
Wo Deutschland ganz bei sich ist (VII) – Auf dem Markt

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Eine Verkäuferin greift an einem Obst- und Gemüsestand auf dem Wochenmarkt in eine Kiste mit Kartoffeln.

Das realitätsnahe Gemüse und Obst auf dem Bauernmarkt hat wenig zu tun mit dem stromlinienförmigen Plastikkram aus dem Supermarkt.

Nirgends fühlt sich der degenerierte Städter der Natur näher als beim Tomatenbefühlen auf dem Bauernmarkt.

Im Blumenladen gibt es Blumen, aber auf dem Wochenmarkt gibt es keine Wochen. Das ist bedauerlich. Es wäre schön, einen Markt zu haben, auf dem sich für kleines Geld zusätzliche Lebenszeit erwerben lässt. Stattdessen gibt es dort Brokkoli, Blumenkohl und Kartoffeln. Auch sie sollen ja helfen, das Leben um mehrere Wochen zu verlängern. Es ist aber ein umständlicher Umweg. Warum nicht Zeit direkt kaufen und Lasagne essen?

Nach gleichem Muster gibt es auf dem Bauernmarkt auch keine Bauern. Beziehungsweise: doch. Aber nicht zu kaufen. Die Bauern auf dem Bauernmarkt verkaufen Gemüse an eine urbane, „Landlust“ lesende „Waschbär“-Kundschaft. Und das ist gut so. Denn das realitätsnahe Gemüse auf dem Bauernmarkt hat wenig zu tun mit dem stromlinienförmigen Plastikkram aus dem Supermarkt: den leuchtend roten Playmobiläpfeln namens Pink Lady aus Australien, den geruch- und geschmacksfreien Tomaten mit „unverkorkter Nabelbildung“ (EU-Verordnung) oder den Zucchini, die glänzen wie frisch geputzte Lederschuhe und auch so schmecken.


  1. Wo Deutschland ganz bei sich ist (I) – Recyclinghof
  2. Wo Deutschland ganz bei sich ist (II) – Die Raststätte
  3. Wo Deutschland ganz bei sich ist (III) – Der Bierstand
  4. Wo Deutschland ganz bei sich ist (IV) – Der Baumarkt
  5. Wo Deutschland ganz bei sich ist (V) – Im Wald
  6. Wo Deutschland ganz bei sich ist (VI) – Elternabend

Neulich habe ich eine Gurke gegessen, die gar nicht nach Gurke schmeckte. Das kam, weil sie eine richtige Bauernmarktgurke war und keine grüne Stange Wasser. Es ist absurd, aber wahr: Der Mensch verfügt über fünf Sinne – Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken und Hören –, aber beim Einkaufen verlässt er sich einzig und allein auf die Optik. Ist die Gurke gerade? Hat der Wein ein schickes Etikett? Ist das Radieschen so groß wie eine Aprikose? Ist die hübsche Verkäuferin wieder an der Käsetheke?

Jede fünfte geerntete Frucht schafft es in diesem Land erst gar nicht in den Supermarkt: Sie wird auf dem Acker direkt wieder untergepflügt, weil sie bei Lidl, Aldi und Co. aus optischen Gründen keine Chance hätte gegen das genormte Instagram-Obst und -Gemüse. Das wird demnächst wahrscheinlich auch noch intelligenter sein als wir Käufer (Kunde: „Sind die Tomaten genbehandelt?“ – „Bauer: „Warum wollen Sie das wissen?“ – „Tomate: „Ja, genau! Warum wollen Sie das wissen?“).

Nirgends fühlt sich der degenerierte Städter der Natur näher als beim Tomatenbefühlen auf dem Bauernmarkt. Mit Kennermiene betatscht er Obst und Gemüse, als könne er durch die Sensoren seiner Finger die Qualität erspüren. Es ist wie im Autohaus, wo man ja auch durch ausgiebiges Öffnen und Schließen der Türen und des Kofferraums erkennt, ob das ein gutes Auto ist. Nur bei Kartoffeln bleibt die alte Frage unbeantwortet: Sind „vorwiegend“ festkochende Kartoffeln auch nach dem Wiegen noch festkochend?

Nur bei Kartoffeln bleibt die alte Frage unbeantwortet: Sind „vorwiegend“ festkochende Kartoffeln auch nach dem Wiegen noch festkochend?
Imre Grimm

Bauernmarkt – das ist Shopping wie anno 1348. Mit dem Unterschied, dass einem kein Panscher ein Gesöff aus alter Erbsensuppe, toter Katze und Schafsgedärm als „Bier“ unterjubelt – und dass du nicht überlegen musst, für wie viele Personen du heute einkaufen musst, weil wieder die halbe Verwandtschaft an der Pest gestorben ist.

Schönes Wochenende!


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.