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Protokoll der Hochwasser-KatastropheSo wurde Erftstadt von der Flut erfasst

Lesezeit 7 Minuten
Zerstörung Blessem Flut

In Erftstadt-Blessem wurden beim Hochwasser ganze Straßenzüge zerstört.

  1. Carolin Weitzel, Bürgermeisterin der Stadt Erftstadt, hat nach der Flutkatastrophe einen Einblick in den zeitlichen Ablauf der verheerenden Stunden gegeben.
  2. Was passierte vom 14. auf den 15. Juli rund um Erftstadt? Wie reagierten die Einsatzkräfte?
  3. So entwickelte sich die Hochwasser-Katastrophe aus Sicht der Verwaltung.
  4. Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Text aus unserem Archiv, der unsere Leserinnen und Leser besonders interessiert hat. Er wurde zum ersten Mal am 24. August 2021 veröffentlicht.

Erftstadt – Die Bürgermeisterin der Stadt Erftstadt, Carolin Weitzel, hat rund sechs Wochen nach der Flutkatastrophe einen Einblick in den zeitlichen Ablauf der verheerenden Stunden gegeben. Ein Protokoll der Ereignisse vom 14. und 15. Juli aus Sicht der Verwaltung, an deren Ende große Teile insbesondere des Ortsteils Blessem zerstört wurden:

Mittwoch, 14. Juli

Der Erftverband hatte am 14. Juli um 13.27 Uhr den Medien im Rhein-Erft-Kreis mitgeteilt, dass ein hundertjährliches Hochwasser bevorstehe. Diese Information wurde unter anderem auch durch Radio Erft kommuniziert. Jedoch lag die vom Erftverband an Radio Erft übermittelte Information der Stadt Erftstadt nicht vor.

Ergänzend zu den amtlichen Wetterdaten des Deutschen Wetterdienstes erhielt die Feuerwehr der Stadt Erftstadt am 14. Juli über die Kreisleitstelle des Rhein- Erft-Kreises um 14.56 Uhr eine Meldung „Unwetterlage – Extrem ergiebiger Dauerregen.“ Dabei wurde empfohlen, die Besetzung der Kommunalen Koordinierungsstelle, damit auch in der Feuerwehr Erftstadt, zu planen.

Der beigefügte Warnlagebericht für Nordrhein-Westfalen, ausgegeben vom Deutschen Wetterdienst am Mittwoch, 14. Juli, um 14.28 Uhr, enthielt eine generelle Ankündigung eines Starkregens sowie von Unwettern durch schwere Gewitter für Nordrhein-Westfalen.

Die Feuerwehr Erftstadt hat gemäß ihrer Einsatzplanung die Kommunale Koordinierungsstelle um 16.20 Uhr personell besetzt. Zudem wurden die ersten Einheiten der Feuerwehr Erftstadt alarmiert und eine erweiterte rückwärtige Führungsorganisation vorbereitet. Entsprechend des Alarmplanes wurden die erforderlichen Maßnahmen getroffen.

Um 17.55 Uhr erfolgte wegen der bereits eingetretenen verstärkten Einsatzlage und wegen der sich durch den Starkregen verursachten bereits abzeichnenden Rückstauungen im Kanalsystem zusätzlich die Alarmierung des städtischen Stabes für außergewöhnliche Ereignisse (SAE), der um 18.30 Uhr am selben Tag erstmalig zusammentraf.

Die Einsatzleitung der Feuerwehr hat frühzeitig die Bildung eines Einsatzabschnittes Blessem sowie eine Kontaktaufnahme zu den erreichbaren Verantwortlichen des Marienhospitals Frauenthal veranlasst, da eine besondere Betroffenheit nicht ausgeschlossen werden konnte.

Am 14. Juli um 19.26 Uhr hat die Feuerwehr Erftstadt über die Kreisleitstelle einen stadtweiten Sirenenalarm auslösen lassen, um alle verfügbaren Feuerwehreinsatzkräfte zu alarmieren, so dass die planerischen Vorkehrungen durch einen Gesamtalarm der Feuerwehr ergänzt wurden.

Das sehr hohe Aufkommen von Notrufen in der Kreisleitstelle gegen 20.15 Uhr hat die Entscheidungstragenden veranlasst, eine konkretisierende Gefahreninformation zu „Extrem heftigen Starkregen“ per Modularem Warnsystem für den Rhein-Erft-Kreis mit allgemeinen Informationen zur Unwetterlage herauszugeben.

Der Text der Warnung lautete: „Im gesamten Rhein-Erft-Kreis kommt es aufgrund des Unwetter- und Starkregenereignisses zu einem massiv erhöhten Notruf- und Einsatzaufkommen. Alle Feuerwehren des Rhein-Erft-Kreises sind im Einsatz. Sollten Sie einen Notruf absetzen müssen, bleiben Sie in der Warteschleife. Alle Gespräche werden angenommen – legen Sie nicht auf!

Sehen Sie bitte von Nachfragen zu Unwettereinsätzen ab, da hierdurch der Notruf für Notfalleinsätze blockiert wird. Es besteht keine Unterversorgung im Rettungsdienst. Bleiben Sie möglichst zuhause.“

Das Modulare Warnsystem „MoWaS“ ist ein System des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das für die Warnung und Information der Bevölkerung in Zivilschutzlagen entwickelt wurde.

Die Pegel, die im direkten Zusammenhang mit den Gewässern im Stadtgebiet Erftstadt stehen, konnten im Verlaufe des Mittwochnachmittags durch Einsatzkräfte der Feuerwehr persönlich in Augenschein genommen werden. Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Überflutungen in den Ortschaften außerhalb der sonst üblichen Flächen feststellbar. Im Rahmen der stadtweiten Einsatzmaßnahmen wurden die Pegel wiederkehrend betrachtet.

Gegen 21 Uhr wurde am Pegel Arloff auch der Wert für ein HQextrem überschritten. Der Pegel Arloff liegt im Stadtgebiet von Bad Münstereifel im Kreis Euskirchen. Die Feuerwehr Erftstadt war nach Auslösung des stadtweiten Sirenenalarmes mit allen im Rhein-Erft-Kreis zur Verfügung stehenden Einsatzkräften in Erftstadt mit der Abarbeitung der Einsatzlagen aufgrund des Starkregenereignisses befasst. Die akute Einsatzlage im Kreis Euskirchen war der Feuerwehr Erftstadt nicht bekannt. Die Meldewege sind im Warn- und Meldeerlass beschrieben. Die Koordination obliegt den Landkreisen über die Bezirksregierung Köln.

Durch die an Dynamik zunehmende Lageentwicklung im gesamten Stadtgebiet waren bis 21.15 Uhr mehr als 125 Einsatzlagen zu bewältigen. Alle in Erftstadt zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte waren dauerhaft im Einsatz und wurden durch weitere Einsatzkräfte aus dem Rhein-Erft-Kreis unterstützt.

Neben den Unwettereinsätzen mussten noch diverse Brandeinsätze sowie auflaufende Brandmeldeanlagen aus Pflege- und Betreuungseinrichtungen sowie weitere zeitkritische Einsätze durch die Feuerwehr abgearbeitet werden. Beispielsweise die Evakuierung der Flüchtlingsunterkunft Radmacher Straße mit rund 80 Personen. Daneben lag ein besonderer Fokus auf der Sicherung der Kläranlage Köttingen und dem Marienhospital Frauenthal.

Das ganze Marien-Hospital stand unter Wasser.

Ein Großteil der Einsatzkräfte musste zur Sicherung des Krankenhauses, sowie des Altenpflegezentrums am Krankenhaus zusammengeführt werden, um dort einen Wassereinbruch durch Oberflächenwasser einzudämmen.

Gegen 22 Uhr wurden die Planungen für eine Verteilung der Intensivplätze – konkret die Teilevakuierung der medizinisch sensibelsten Patienten – in Abstimmung mit den zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Verantwortlichen des Krankenhauses über die Kreisleitstelle des Rhein-Erft-Kreises aktiv vorgeplant und geprüft.

Im Laufe des Abends wurde zudem eine freigespülte Kerosin-Transportleitung zum Fliegerhorst Nörvenich sowie eine Gastransportleitung, die beide zu bersten drohten, festgestellt und die entsprechenden Sicherungsmaßnahmen eingeleitet.

Alle verfügbaren Einsatzkräfte der Feuerwehr sowie die Unterstützungseinheiten aus dem Rhein-Erft-Kreis waren dauerhaft im Einsatz. Überörtliche Einheiten, inklusive zwei zusätzliche Wasserförderfahrzüge mit Flutmodulen, waren zur Gefahrenabwehr aus Münster und Emsdetten angefordert.

Donnerstag, 15. Juli

Während der Nacht ließen die Regenfälle nach, die Pegelstände stagnierten und sanken daraufhin leicht. Das Oberflächenwasser in den Ortslagen floss über die Straßeneinläufe der Kanalisation mit erkennbarer Tendenz ab.

Eine zeitweilig geplante Sperrung der B 265 in den frühen Morgenstunden wurde aufgrund des abfließenden Oberflächenwassers in den Mühlengraben und die Kanalisation verworfen. Durch den teilweisen Ausfall der kompletten Infrastruktur - wie Mobilfunk, Strom, BOS-Funk, Verkehrsinfrastruktur, Telefonie, Internet - wurde eine Lagebewertung fortlaufend und teilweise äußerst massiv erschwert.

Am 15. Juli um 4.18 Uhr löste die Feuerwehr Weilerswist einen Großalarm aus und warnte die Bevölkerung auf allen verfügbaren Kanälen vor einer Überflutung von weiten Teilen von Weilerswist. Konkret wurde die Bürgerschaft in Weilerswist aufgefordert, sich in die ersten Etagen der Häuser zu begeben und den Strom abzuschalten. Hintergrund des Alarms war die Information, dass der Retentionsraum Horchheim gefüllt ist und damit das Wasser der Erft nicht länger aufstauen kann. Die Überflutung des Damms und damit ein möglicher Dammbruch waren zu befürchten.

Die Gemeinde Weilerswist grenzt zwar an das Stadtgebiet Erftstadt an, liegt aber im Kreisgebiet Euskirchen. Die Einsatzleitung der Feuerwehr Erftstadt hatte zu diesem Zeitpunkt keine Meldungen zu den in Weilerswist getroffenen Maßnahmen. Durch den Ausfall der Infrastruktur konnten die Pegelstände über einen längeren Zeitraum in den Morgenstunden des 15. Juli nicht nachvollzogen werden. Alle verfügbaren Einsatzkräfte waren gebunden.

Nach einer eingehenden Meldung eines Mitarbeiters des Erftverbandes am 15. Juli um 8.10 Uhr bei der Kreisleitstelle des Rhein-Erft-Kreises, dass der Damm des Retentionsbeckens Horchheim zu brechen droht, wurde umgehend die Evakuierung der Ortslagen Blessem, Bliesheim sowie der Objekte Krankenhaus Erftstadt und Altenpflegezentrum Münchweg veranlasst. Für die Ortslagen Gymnich und Dirmerzheim erging eine Vorwarnung für eine eventuelle mögliche Evakuierung.

Dies wurde um 8.50 Uhr über die Kreisleitstelle des Rhein-Erft-Kreises zum Ereignis „Dammbruch“ mittels MoWaS (Warnstufe 1) mitgeteilt. Für die Umsetzung der Evakuierung wurden alle erreichbar verfügbaren Kräfte eingesetzt.

Zerstörung Erftstadt Luftbild

Die Fluten haben große Teile Blessems zerstört.

Am Vormittag des 15. Juli wurden die Schutzeinrichtungen der Kiesgrube bei Blessem überspült. Große Wassermassen drangen in die Kiesgrube ein. Die Böschungen der Kiesgrube sackten in sich zusammen. Die von Erosion betroffenen Flächen weiteten sich immer mehr aus. Die Stadt Erftstadt hatte von der Entwicklung in der Kiesgrube am Vormittag und Mittag des 15. Juli keine Kenntnis. Das Ausmaß wurde erst im späteren Tagesverlauf nach erfolgter Luftlageerkennung bekannt. Die Stadt erhielt durch den Betreiber der Kiesgrube keine Informationen.

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Auch die Feuerwehr kann nicht feststellen, zu welchem konkreten Zeitpunkt es zu einer Ausbreitung der Erosion gekommen ist. Die Feuerwehr Erftstadt befand sich am Morgen des 15. Juli über mehrere Stunden in einer ausgedehnten Aktion, um Menschen zu retten und zur Evakuierung in mehreren Ortsteilen. Dies wurde teilweise mit Hubschraubern, Booten, Baumaschinen und Strömungsrettern durchgeführt. Es galt, die zu dem Zeitpunkt größte Gefahr für die Bevölkerung abzuwehren.

Gegen 8.50 Uhr wurde am 15. Juli wegen des drohenden Dammbruchs Horchheim für die davon betroffenen Teile des Stadtgebietes von Erftstadt die Warnung der höchsten Gefahrenstufe (Warnstufe 1) mit dem Betreff „Dammbruch“ über das Modulare Warn System ausgegeben und eine Evakuierung der betroffenen Ortschaften unmittelbar ausgelöst. Die Vorplanungen zur Evakuierung des Krankenhauses wurden ebenfalls aktiviert.

Durch das Überlaufen des Rückhaltebeckens Niederberg kam es zu Überschwemmungen entlang des Rotbaches in den Ortschaften Niederberg, Friesheim, Ahrem und Lechenich.Die Verbindungsstraße K 44 zwischen Lechenich und Liblar wurde überschwemmt. Die Hauptverkehrsstraße B 265 sowie die beiden Bundesautobahnen A 1 und A 61 wurden ebenfalls überflutet. Die Verkehrsinfrastruktur brach in weiten Teilen zusammen.