Köln – Wilfried Kaets zählt bis vier und schon spielt die Band die ersten Takte von „Heute hier, morgen dort“. Bass, Tenor, Alt und Sopran steigen in den Folksong von Hannes Wader ein. Keyboardspieler, Gitarrist, Schlagzeuger, Saxophonist und 17 Sängerinnen und Sänger musizieren gemeinsam – mit Abstand. Sehr viel Abstand sogar, die meisten sitzen in ihren vier Wänden in Köln und Umgebung, es sind aber auch Hobby-Musikerinnen und -Musiker aus Augsburg und München zugeschaltet.
Es ist fast surreal, wie die verschiedenen Stimmen und Instrumente ohne merkliche Verzögerung digital und live miteinander klingen. Während man von den Videokonferenzen im Homeoffice und Homeschooling ständige Verzögerungen, Einfrieren und Tonausfälle gewohnt ist, läuft das „Digitale Lagerfeuer“ von Kölns Regionalkantor Kaets über die Software Jamulus ruckelfrei und fast wie offline.
Wilfried Kaets ist diözesaner Beauftragter für Jugend und Musik im Erzbistum Köln und leitet neben dem bundesweiten offenen Chor „Digitales Lagerfeuer“ auch den Jugendchor sowie zusammen mit einem Kollegen den Erwachsenenchor der Rochuskirche in Bickendorf. Seit Beginn der Pandemie gilt Singen als das „gefährlichste Hobby der Welt“. Die Kirchenchöre können dementsprechend keine Proben oder Auftritte in ihren Räumlichkeiten veranstalten. Der 60-jährige Kölner hat deshalb im vergangenen Jahr intensiv nach Möglichkeiten zum gemeinsamen digitalen Singen gesucht.
Wie viele andere Chorleiter habe auch er anfangs auf bekannte Plattformen wie Zoom und Teams zurückgegriffen. Das Problem: Sie sind auf Sprache und nicht auf Musik optimiert und es gibt sehr große Verzögerungen. Deshalb seien die Proben nur noch monodirektional gewesen. Der Chorleiter singt vor und die Chormitglieder singen für sich nach, bleiben aber stumm geschaltet. Die Folge: „Insbesondere die Laien und die Schwächeren haben sich abgemeldet“, erzählt Kaets. „Ihnen fehlt die Sabine neben ihnen, die immer den starken Alt singt.“
LAN als größte Hürde
Ein Kontakt machte Wilfried Kaets dann auf die Open-Source-Software Jamulus aufmerksam. Der Kölner war bereits nach den ersten Testläufen begeistert. Das Erzbistum finanzierte einen Programmierer, um die Software weiter für Chöre zu optimieren und ab Januar gingen sie mit Jamulus in die Breite.
Für die Nutzung von Jamulus braucht man im Grunde nur einen Laptop oder PC, Kopfhörer, ein Mikrofon und LAN. Letzteres sei die größte Hürde – insbesondere für die jüngeren Chorsängerinnen und -Sänger: „Meine Jugendlichen wissen gar nicht, was LAN ist, die kennen nur WLAN. Die machen alles mobil mit dem Smartphone oder Tablet“, sagt Kaets. Aber nach und nach nutzen immer mehr von ihnen den Computer der Eltern, um auch über Jamulus teilnehmen zu können. „Meine Jamulanten-Gemeinde wächst auch im Jugend-Chor. Das ist ein schönes Ergebnis“, sagt Kaets. Und auch andere Chöre werden auf die Open-Source-Software aufmerksam.
Immer häufiger melden sich Sängerinnen und Sänger aus Chören bei Kaets, um mehr über Jamulus zu erfahren. Der Kölner ist dank der Software Vorreiter in der Szene. „Es ist wie ein Virus, aber ein positives Virus, weil Leute endlich dieses gefährlichste Hobby der Welt zumindest rudimentär wieder gemeinsam pflegen können“, sagt Kaets lachend. „Vor allem für den normalen Chorsänger ist es eine Erleuchtung, wenn er seine Kollegen wieder singen hören kann.“ Auch das „Digitale Lagerfeuer“ gewinne immer mehr Musikerinnen und Musiker, Sängerinnen und Sänger aus ganz Deutschland – obwohl nicht nur die klassischen Kirchenlieder gesungen werden, sondern Musik aus allen Genres.
„Ein bisschen weniger Kirchenchor, ein bisschen mehr Pop“, weist Kaets so die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Digitalen Lagerfeuers“ beim Proben des Beatles-Klassikers „Let it be“ an. Stück für Stück geht er die einzelnen Stimmen durch, bis alle bereit sind. Und dann zählt er den Takt wieder an und die Band legt los. Ohne Verzögerung, ganz digital.
Das bedeuten die Lockerungen für Kölner Chöre
Aufgrund der neuen Coronaschutzverordnung können bei einer Inzidenz unter 100 nicht-berufsmäßige Proben ohne Personenbegrenzung im Freien stattfinden. Liegt die Inzidenz stabil unter 50, können sogar innen Proben mit maximal 20 Personen mit negativem Coronatest stattfinden. Bei einer Inzidenz unter 35 steigt die maximale Personenzahl für Proben in Innenräumen auf 30 bzw. 50 Personen, die höhere Zahl gilt dabei für besonders große Räume, wie zum Beispiel Kirchen und Konzertsäle.
Für die Chöre von Wilfried Kaets ändert sich vorerst trotzdem nicht viel, die digitale bzw. teils hybride Chorprobe bleibe erstmal der Standard. Doch Kaets hofft, dass mit den neuen Lockerungen dann auch bald wieder verstärkt auf Live-Proben gesetzt werden kann, insbesondere bei weiter sinkenden Inzidenzen. Dann wären im Sommer schon Proben im Probensaal denkbar. Pläne für diesen Fall werden schon gemacht.
Der Kölner Chorleiter Michael Kokott sieht in den neuen Lockerungen für seine Chöre mit 60 bis 90 Mitgliedern noch keine großen Chancen. Laut Kokott haben Proben im Freien bei dieser Größe wenig musikalischen Nutzen. Aufgrund der darüber hinaus mangelnden Auftrittsziele warte er lieber, bis „Chöre wieder in kompletter Besetzung singen und dann mit voller Begeisterung durchstarten können“. (ari/anm)