Köln – Am Donnerstag stellt der Kölner Rechtsanwalt Björn Gercke sein mit großer Spannung erwartetes Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vor. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Welches Ziel hat das Gutachten?
Gerckes Auftrag war zu prüfen, wie die Kölner Bistumsleitung seit 1975 mit Missbrauchsfällen verfuhr. Es geht also nicht um eine straf- oder kirchenrechtliche Beurteilung der Täter und ihrer Vergehen, sondern um Vertuschung und andere Pflichtverletzungen nach Maßgabe des weltlichen und vor allem des kirchlichen Rechts. Hier steht unter anderem die Frage im Raum, ob Polizei und Staatsanwaltschaft über Verdachtsfälle informiert wurden. Eine Anzeigepflicht kennt das deutsche Recht nicht. Kirchenrecht und bischöfliche Leitlinien machen allerdings strenge Vorgaben. Zudem gibt es eine Meldepflicht an den Vatikan.
Gercke sollte über eine juristische Prüfung hinaus auch untersuchen, ob das Verhalten der Bistumsverantwortlichen dem „kirchlichen Selbstverständnis“ entsprach. Dieser Begriff ist schillernd. Gercke hat bereits erklärt, er nehme als Jurist keine moralisch-ethische Bewertung vor. Vielmehr wolle er mit seiner Arbeit ein solches Urteil ermöglichen. Außerdem soll er Kardinal Rainer Woelki als dem Auftraggeber Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Gercke hat aktive und ehemalige Bistumsfunktionäre befragt und sie mit den Befunden zu etwaigen Pflichtverletzungen konfrontiert. Die Betroffenen konnten Stellung nehmen, wovon sie dem Vernehmen nach teils intensiv Gebrauch gemacht haben, auch mit Hilfe eigener Anwälte.
Gercke hat 236 Fälle ausgewertet, die in sogenannten Interventionsakten dokumentiert sind. Er gibt an, auf etwa 200 Beschuldigte sowie rund 300 Opfer gekommen zu sein. Ausgewählte Fälle von besonderer Brisanz sollen im Gutachten ausführlich, alle anderen kursorisch dargestellt werden. Den Umfang seiner Arbeit hat Gercke mit 700 Seiten angegeben.
Das Gutachten soll Verantwortlichkeiten „schonungslos“ und „ohne falsche Rücksichten“ benennen. Was bedeutet das?
Im Kern geht es hier darum, einem zentralen Anliegen der Missbrauchsopfer Rechnung zu tragen: zu wissen, wer aufseiten der Kirche Täter geschützt, ihre Taten verschleiert oder bagatellisiert und dafür gesorgt hat, dass Täter in der Seelsorge bleiben durften, was nicht selten zu weiterem Missbrauch führte.
Der Kölner Stadtdechant Robert Kleine hat unlängst ausgesprochen, was alle wissen, die mit der Kirchenstruktur und den Vorgängen im Erzbistum vertraut sind: Die Namen der Verantwortlichen sind längst bekannt. Es geht in erster Linie um die verstorbenen Kardinäle Joseph Höffner und Joachim Meisner, ihre Generalvikare, Personalchefs und weitere Amtsträger wie den Offizial, den obersten Kirchenrichter. Generalvikar unter Höffner und Meisner war Norbert Feldhoff.
Ihm folgten der heutige Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der zuvor sechs Jahre lang Personalchef war. Dieses Amt hatte für kurze Zeit auch der heutige Weihbischof Ansgar Puff inne. Auf Heße folgten als Generalvikare der heutige Kölner Citypfarrer Dominik Meiering und Markus Hofmann.
Aus bereits vorliegenden Sondergutachten und Presseberichten zu einzelnen Missbrauchstätern sowie Interview-Aussagen Gerckes ergibt sich, dass etliche der Genannten im Gutachten belastet werden.
Was sind die nächsten Schritte?
Kardinal Woelki hat ein hartes Durchgreifen in mehreren Stufen angekündigt. Da er – wie er versichert – das Gutachten bislang nicht kennt, will er unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse die von Gercke belasteten Amtsträger vorläufig von ihren Aufgaben entbinden, sofern dies nötig sein sollte. Nach Sichtung des Gutachtens sollen erste personelle und strukturelle Konsequenzen am 23. März mitgeteilt werden. Mehrfach hat Woelki versichert, auch er selbst werde sich den Ergebnissen des Gutachtens stellen.
In einem Fall ist bereits bekannt, dass er als Erzbischof den Missbrauchsverdacht gegen einen mit ihm befreundeten Priester nicht untersuchen ließ und nicht nach Rom meldete. Ob dies als Vertuschung zu werten ist, ist strittig. Woelki versichert, er habe sich nach Prüfung seines Gewissens keinen Vorwurf zu machen.
Wie könnten personelle Konsequenzen aussehen?
Alle Amtsträger, die nicht Bischöfe sind, kann Woelki als Dienstvorgesetzter ohne größere Probleme absetzen, erklärt der Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke. Eine solche Handhabe gegen Amtsträger im Ruhestand entfällt naturgemäß. Hier käme die Aberkennung von Ehrentiteln infrage, die aber meist vom Papst verliehen sind. Besonders schwierig wird es bei Bischöfen. Außerhalb des Erzbistums hat Woelki keine Befugnisse.
Seinen Weihbischöfen könnte er bestimmte Amtshandlungen wie Firmungen untersagen oder ihren Aufgabenbereich so beschneiden, dass sie praktisch nichts mehr zu tun hätten, so Lüdicke. Das heißt: kaltstellen, aber nicht loswerden. Die Bischofswürde nehmen kann ihnen nur der Vatikan. Ungeachtet dessen steht die Möglichkeit von Rücktritten im Raum. Der Kardinal hat einen solchen Schritt 2018 in Aussicht gestellt, falls ihm Vertuschung nachgewiesen würde. Rein formal kann ein Bischof allerdings gar nicht zurücktreten. Er muss vielmehr seinen Amtsverzicht dem Papst anbieten. Im Fall des früheren Erzbischofs von Lyon, Philippe Barbarin, lehnte Papst Franziskus das Rücktrittsgesuch 2019 im Zuge eines Prozesses wegen Vertuschungsvorwürfen zunächst ab.
Die Amtsenthebung eines Bischofs durch den Papst, den obersten Souverän der Kirche, ist jederzeit möglich. Papst Franziskus hat dies bereits mehrfach praktiziert. Allerdings ging es dabei um gravierendere Vorwürfe als Vertuschung.
Was wird aus einem von Woelki 2020 unter Verschluss genommenen ersten Gutachten?
Das Erzbistum entschied im Oktober 2020 nach längerem, kontroversem Vorlauf, ein von Woelki 2018 in Auftrag gegebenes erstes Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht zu publizieren. Als Begründung werden rechtliche Bedenken und methodische Mängel genannt.
WSW bestreitet die Vorwürfe gegen die Arbeit und hat angeboten, diese auf eigenes juristisches Risiko zu publizieren. Das lehnt das Erzbistum ab. Es will das WSW-Gutachten aber Opfern, Journalisten und der „interessierten Öffentlichkeit“ zugänglich machen und diesen damit einen Vergleich ermöglichen. (mit kna)