Köln – Der Fall eines weiteren Mehrfach-Sexualstraftäters setzt die Führungsspitze des Erzbistums Köln unter Kardinal Rainer Woelki zusätzlich unter Druck. Wie zuerst die „Bild-Zeitung“ online berichtete, zeigte das Erzbistum nach Woelkis Amtsantritt als Erzbischof von Köln am 20. September 2014 vier Jahre lang die von dem Priester Josef M. eingestandenen sexuellen Vergehen an Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 1971, 1972, 1974, 1977 bis 1980 und 1996 nicht bei den staatlichen Strafverfolgungsbehörden an. Nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeiger" soll es sich um mindestens zehn Opfer beiderlei Geschlechts handeln.
Zwei Jahre lang unterblieb auch die im Kirchenrecht vorgeschriebene Unterrichtung der Glaubenskongregation in Rom.
Vorausgegangen war im April 2014 die Anzeige eines Priesters, dass er als Jugendlicher selbst von Pfarrer M. missbraucht worden sei. Zu diesem Zeitpunkt war Woelki noch Erzbischof in Berlin. Kommissarisch leitete der damalige Generalvikar Stefan Heße (seit 2015 Erzbischof von Hamburg) nach dem altersbedingten Rücktritt von Kardinal Joachim Meisner das Erzbistum Köln.
Drei Jahre später legte M. vor Personalverantwortlichen des Erzbistums erneut sein Geständnis ab. Das Erzbistum begründet die Wiederholung dieser Prozedur mit einer „unzureichenden Dokumentation“ des Geständnisses von 2014. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll damals gar kein beziehungsweise nur ein lückenhaftes Protokoll erstellt worden sein. Aber auch nach der erneuten Aufnahme von M.s Geständnis schaltete das Erzbistum nicht umgehend die Polizei und die Staatsanwaltschaft ein.
Zunächst keine Stellungnahme von Kardinal Woelki
Warum Kardinal Woelki den auch in den kirchlichen Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen festgeschriebenen Meldepflichten nur verspätet nachkam, ließ das Erzbistum auf Anfrage des "Kölner Stadt-Anzeiger" unbeantwortet.
Erst 2016, also zwei Jahre nach M.s Geständnis, erfolgte nach Bistumsangaben eine Meldung nach Rom. Dem Vernehmen nach handelte es sich um ein zehnseitiges Dossier an die Glaubenskongregation. Darin soll ein führender Mitarbeiter Woelkis alle angezeigten beziehungsweise von M. eingestandenen Vergehen an Kindern und Jugendlichen ausführlich geschildert haben.
Als Sanktion soll Woelki eine Beteiligung von M. an Entschädigungs- und Therapiekosten in Höhe von 5500 Euro verhängt haben, wie laut „Bild“ aus einem Brief des Erzbischofs an M. hervorgehen soll. Außerdem wies Woelki M. in Übereinstimmung mit der Glaubenskongregation Rom an, keine öffentlichen Gottesdienste mehr zu feiern und den Kontakt zu Kindern zu verzichten. Der Täter sei für Woelkis Milde dankbar gewesen. „Pfarrer M. ist über den Brief des Erzbischofs sehr erleichtert“, soll in der Personalakte des Priesters vermerkt sein.
Rechtsanwalt: „Feststellung einer Verjährung ist nicht Sache des Erzbischofs von Köln“
Die Straftaten waren zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens nach staatlichem Recht allesamt verjährt. Es sollen gravierende Sexualdelikte darunter gewesen sein, die in den Bistumsakten detailliert dokumentiert sind.
Eine etwaige Verjährung zu prüfen, ist nach Auskunft von Juristen einzig und allein Sache der staatlichen Ermittler. „Für die Feststellung einer Verjährung kommt es immer auf den Einzelfall an, und das liegt sicher nicht in der Kompetenz des Erzbischofs von Köln“, sagte der Hildener Rechtsanwalt Peter Schnatenberg dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Die Anzeige erfolgte letzten Endes dann doch, und zwar am 29. Oktober 2018, wie die Staatsanwaltschaft Düsseldorf auf Anfrage bestätigte. Zu diesem Zeitpunkt lagen sämtliche Akten zu Missbrauchstaten im Erzbistum seit 1975 bei der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in München. Sie sollte ein Rechtsgutachten erstellen, das im Oktober 2020 von Woelki unter Verschluss genommen wurde.
Einen zweiten kompletten Aktensatz hatte auch die zuständige Interventionsstelle des Erzbistums in ihrer Verfügung. Ein Informationsaustausch mit den unabhängigen Gutachtern über deren Ermittlungsstand war ausdrücklich nicht vorgesehen.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf stellte die Ermittlungen 2018 ein, wie Behördensprecherin Laura Hollmann auf Anfrage mitteilte. „Es handelte sich um den Vorwurf sexuellen Missbrauch zum Nachteil eines Geschädigten in den Jahren von 1982 bis 1988.“ Nach damaligem Recht wären die Taten nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren verjährt gewesen, erklärte Hollmann. Weitere Vorwürfe gegen M. seien ihrer Behörde vom Erzbistum nicht angezeigt worden. Nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeiger" soll es insgesamt keine weiteren Strafanzeigen im Fall M. gegeben haben.
Brisanz des Falls war Bistumsleitung augenscheinlich bewusst
Dem Vernehmen nach gehört der Fall M. wegen der Schwere der Vergehen und ihrer Behandlung durch die Bistumsleitung unter den Kardinälen Meisner und Woelki zu den 15 exemplarischen Fällen, die die Münchner Gutachter aus der Gesamtheit von mehr als 200 aufgearbeiteten Vorgängen in ihrem vom Erzbistum geheim gehaltenen Abschlussbericht dargestellt haben. Die Brisanz und Folgenschwere des Falls insbesondere für die Opfer war der Bistumsleitung augenscheinlich bewusst.
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Als M. Anfang am 3. Januar im Alter von 77 Jahren starb, verschickte das Generalvikariat am 5. Januar lediglich eine knappe Todesnachricht. In der Mitteilung, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt, hieß es knapp: „Die Beisetzung findet in aller Stille statt. Ein Totenbrief wird nicht versendet.“ Damit verzichtete das Erzbistum auf jede Form einer offiziellen Würdigung des Geistlichen – dem Vernehmen nach aus Rücksicht auf die Opfer.
Wie aus Unterlagen des Erzbistums weiter hervorgehen soll, waren der Kölner Bistumsleitung Vergehen von M. schon unter Woelkis Vorgänger, Kardinal Joachim Meisner, bekannt. Ein externer Mitarbeiter des Erzbistums habe entsprechende Informationen weitergegeben. Die Rede ist von sechs Fällen, in denen es zu schweren Sexualstraftaten gekommen sein. Dies soll 2002 aber lediglich zu einer „Verwarnung“ durch Meisner ohne weitere erkennbare Folgen geführt haben. Eine Weiterleitung der Vorwürfe an die Strafverfolgungsbehörden unterblieb ebenso wie die Meldung nach Rom, obwohl dies seit 2001 - und 2010 von Benedikt XVI. noch einmal verschärft - päpstliche Norm ist.
Im Fall M., so berichtet die "Bild"-Zeitung, habe man 2002 zudem ein psychiatrisches Gutachten eingeholt, dem zufolge „derzeit kein Hinweis auf eine therapiebedürftige Störung und auch kein Therapieauftrag“ bestand. Das Erzbistum teilte mit, M. sei seit September 2002 im Ruhestand und „seitdem mit keinen seelsorgerischen Aufgaben betraut“ gewesen. Ob dies mit den zuvor bekannt gewordenen Vorwürfen zu tun hatte, ließ das Erzbistum offen.