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Kommentar zu weiterem MissbrauchsfallEin Bild systemischer Verantwortungslosigkeit

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Kommentar Woelki1

Der Kölner Erzbischof Rainer Woelki

Es war einmal ein Berater von Kardinal Rainer Woelki. Er empfahl dem Kölner Erzbischof im vorigen Jahr, das geheimnisumwitterte Rechtsgutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zum Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln zu veröffentlichen. Ungeachtet etwaiger juristischer Auseinandersetzungen mit ehemaligen und aktiven Bistumsfunktionären, die sich darin als Vertuscher, Abwiegler und empathielose Beschützer nicht der Opfer, sondern der Täter und des kirchlichen Systems wiederfinden würden.

Das Risiko von Rechtsstreitigkeiten sei das eine, meinte der Berater, von dem Woelki sich inzwischen ohne ein öffentliches Wort des Danks getrennt hat. Mindestens so bedenkenswert aber sei das Risiko, dass die Inhalte des Gutachtens ganz oder in Teilen auch dann publik würden, wenn der Kardinal es hochoffiziell unter Verschluss nehmen würde.

Dieser Berater verstand sein Geschäft. Denn seit Wochen passiert genau das. Der am Dienstag zuerst von der „Bild“ enthüllte Fall des Priesters und Mehrfach-Sexualstraftäters Josef M. ist dem Vernehmen nach im Münchner Gutachten enthalten. Es liegt im öffentlichen Interesse, dass bekannt wird, wie das Erzbistum unter den Kardinälen Joseph Höffner (Erzbischof von 1969 bis 1987), Joachim Meisner (1988 bis 2014) und Rainer Woelki mit Missbrauchsfällen in deren Verantwortungsbereich umging.

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Woelki hat durch sein Vorgehen den Verdacht geweckt, dass missliebige, belastende oder verstörende Tatsachen und die Schlussfolgerungen der Münchner Anwälte zu strukturellem und persönlichem Versagen nicht ans Licht kommen sollten. Zwar hat er 2020 ein Ersatzgutachten mit gleichem Untersuchungsauftrag bestellt, das im März vorliegen soll. Der neue Gutachter, der Kölner Strafrechtler Björn Gercke, wird schon aus Gründen der Selbstachtung und seiner Reputation als seriöser Anwalt keine Gefälligkeitsarbeit abliefern. Wie Gercke sich zu Fragen einer moralischen Verantwortung etwa von Meisners früheren Generalvikaren Norbert Feldhoff (Dompropst a.D.), Dominikus Schwaderlapp (Weihbischof in Köln) und Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg) oder auch von Woelkis Ex-Personalchef und heutigem Weihbischof Ansgar Puff jenseits von etwaigen straf- und kirchenrechtlichen Verfehlungen verhalten wird, ist noch einmal eine andere Frage.

Missbrauchstäter im Erzbistum Köln blieben unbehelligt

Der jetzt publik gemachte Fall M. bestätigt Erkenntnisse aus einer Reihe anderer, ähnlich schrecklicher Fälle: Im Erzbistum blieben Missbrauchstäter zum Teil über Jahrzehnte hinweg nahezu unbehelligt. Immer wieder führte das zu neuen Vergehen und noch mehr Opfern. Sich allein das vor Augen zu führen, ist grässlich. Und fast so entsetzlich ist es, dass keiner der Letztverantwortlichen bisher zu diesem offenkundigen Versagen der Kirche und zu persönlicher Schuld steht.

Der Fall M. weist überdies darauf hin, dass es im Erzbistum Köln - trotz der Lawine von Missbrauchsvorwürfen und den Erschütterungsbekundungen und Besserungsversprechen der deutschen Bischöfe seit 2010 – kein klares und konsequentes Regime bei der Verfolgung von Missbrauchsvorwürfen gab. Das ist auch der Vorwurf führender Kirchenrechtler an Kardinal Woelki persönlich, der 2015 den Missbrauchsverdacht gegen einen ihm befreundeten Priester nicht nach Rom meldete. Im Fall M. wiederum unterblieb – aus bislang vom Erzbistum nicht erläuterten Gründen – über Jahre hinweg sowohl die Unterrichtung der staatlichen Ermittler als auch der zuständigen römischen Behörden.

Es kann niemanden wunder nehmen, dass sich diese Mosaiksteine zu einem Bild systemischer Verantwortungslosigkeit fügen. Aber Systeme sind nicht haftbar zu machen. Zur Verantwortung ziehen kann man nur Menschen. Menschen mit Macht. Menschen mit Kompetenzen. Menschen mit Leitungsgewalt und Führungsanspruch. Warten auf das neue Gutachten hat Kardinal Woelki am Wochenende als Parole ausgegeben. Um nur noch fünf Wochen Geduld bat er, dann würden alle Fakten auf dem Tisch liegen. Der Tisch ist längst unter der Last der Geschehnisse zusammengebrochen. Nur die Verantwortlichen stehen darum herum, als hätte das mit ihnen nichts zu tun. Der Kölner Stadtdechant Robert Kleine hat recht: Die Namen dieser Kirchenmänner kennen alle. Und die zumindest wissen schon jetzt um ihr Versagen. Hoffentlich.