Köln – Gärtner Gottfried Runkel ist 59 Jahre alt, seine Frau Elisabeth 72. Und Metzger Engelbert Steinhausen, 23, ist mit einer 20 Jahre älteren Frau verheiratet. Insgesamt gilt: 30 Prozent der Frauen waren älter als ihre Ehemänner, zum Teil sogar deutlich älter. Das ist der überraschende Befund, wenn man die Bevölkerung Kölns im Jahr 1800 untersucht. „Manchmal betrug die Altersdifferenz 30 Jahre und mehr. Ehe war eher eine Zweckgemeinschaft, Alter und Attraktivität spielten eine untergeordnete Rolle“, sagt Claudia Wendels, die es wissen muss. In neunjähriger Arbeit hat sie neben Beruf und Familie eine Bevölkerungsliste der Stadt, die damals angelegt wurde, erfasst und ausgewertet.
Die Fleißarbeit hat ihren Niederschlag in drei telefonbuchstarken Bänden gefunden, die akribisch die, so der Titel, „Bevölkerungs- und Sozialstruktur der Stadt Köln um die Jahrhundertwende 1800/1801“ dokumentieren. Warum hat die 62-Jährige sich diese Mühe gemacht? „Ich finde, dass sich hinter langweiligen Aufzählungen spannende Geschichten auftun“, sagt die promovierte Historikerin, deren Forschungsschwerpunkt die rheinische Landesgeschichte ist und die mittlerweile Bevölkerungslisten von mehr als 60 Orten ausgewertet hat, von Linnich über Düren und Bergheim bis zu Jülich.
Forschung aus reinem Interesse
Nun also Köln. Diesmal ohne Forschungsauftrag, allein aus eigenem Interesse hat sich Claudia Wendels die Stadt vorgenommen, in der sie lebt. Weshalb gerade diese Liste? Weil sie eine interessante Phase des Umbruchs spiegelt, und weil es das vollständigste Verzeichnis seiner Art aus der Franzosenzeit ist. Stünden nur Namen und Adressen darin, gäbe die Liste wenig her, doch es kommen Alter, Beruf oder Stand und gegebenenfalls das Jahr der Zuwanderung und der fremde Herkunftsort hinzu.
42.070 Einwohner bildeten knapp 9000 Haushalte, die sich auf rund 7200 Häuser verteilten.„Wichtig waren gemeinsame wirtschaftliche Interessen“, kommt Claudia Wendels auf den markanten Befund zurück, dass so viele Ehefrauen älter als ihre Männer waren. „Eventuell war die ein oder andere Frau auch eine gute Partie, was leichter über das Alter hinwegsehen ließ“, zum Beispiel wenn es sich um die Witwe eines Kaufmanns oder eines Handwerksmeisters handelte.
Nur etwa zwölf Prozent der damaligen Kölner waren 60 Jahre und älter, gut vier Prozent über 70 Jahre alt. Unter anderem wegen des Mangels an Hygiene und medizinischem Wissen, schlechter Ernährung und harter Arbeit betrug das Durchschnittsalter 30 Jahre; heute liegt es bei 45. 25 Prozent der Einwohner waren höchstens zwölf Jahre alt. Viele junge und wenig betagte Menschen – die klassische Alterspyramide. Die ist heutzutage auf den Kopf gestellt: 27 Prozent der Deutschen sind über 60 Jahre alt und lediglich zwölf Prozent unter 14.
Als die Franzosen 1794 einmarschierten und ihre 20-jährige Herrschaft begann, war die freie Reichsstadt Köln noch in sehr traditionellen Strukturen verhaftet, die auf das Mittelalter zurückgingen. Die Franzosen hoben die Organisation des Handwerks in Zünften und Gaffeln auf, führten die Gewerbefreiheit ein, gaben Juden das Niederlassungs- und Bürgerrecht, das ihnen seit 1424 verwehrt gewesen war, und Protestanten – etwa 400 lebten in Köln – das Bürgerrecht und gingen zum Beispiel dadurch gegen die katholische Kirche vor, dass sie das Erzbistum Köln abschafften und Klöster auflösten.
Die Neuerungen veränderten den Arbeitsmarkt. So hat Claudia Wendels im Abgleich mit einem drei Jahre zuvor herausgegebenen Adressbuch festgestellt, dass knapp ein Drittel der Einwohner, die im Jahr 1800 Tagelöhner waren und damit zur untersten sozialen Schicht gehörten, 1797 noch einen qualifizierten Beruf ausgeübt hatten. Zunftdiener brauchte man nicht mehr, den Goldschmieden waren Auftraggeber abhandengekommen, weil Geistliche und Adelige das Weite gesucht hatten, und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt war größer geworden. 670 Personen in der Liste werden als arm oder sehr arm bezeichnet. „Wenn man bedenkt, dass an einem verarmten Familienvater noch Frau und Kinder hingen, ist die Zahl der Armen sicher um ein Vielfaches höher“, schätzt die Historikerin.
Ein Viertel aller Köln arbeitete im Handwerk
Waren in Deutschland die meisten Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, so verwundert es nicht, die Verhältnisse in der Stadt umgekehrt zu sehen. 23 Prozent der Kölner Erwerbstätigen arbeiteten im Handwerk, von Spinnern über Schneider, Fleischer und Bäcker bis zu Bierbrauern. Und 50 Prozent waren im Dienstleistungssektor tätig, also etwa im Handel, bei Banken und Versicherungen, im Gastgewerbe, als Anwälte und Ärzte; die größte Berufsgruppe stellte das Dienstpersonal mit rund 2900 Personen, davon fast 85 Prozent Frauen. Weil Luxus- und Kolonialwaren wie Kakao, Kaffee, Elfenbein und Kamelhaare wegen der hohen Zölle nur in geringen Mengen gehandelt wurden, blühte der Schmuggel.
„Er wurde als Broterwerb angesehen und nicht als Verbrechen“, sagt Claudia Wendels. „Kurios ist, dass bei 50 Personen Schmuggler sogar als Beruf angegeben wurde.“Erstaunlich ist auch die hohe Quote derjenigen, die nicht aus Köln stammten. Knapp 10.000 Einwohner über zwölf Jahren, das sind immerhin 30 Prozent der Bevölkerung, waren eingewandert. Hauptgründe für den Wechsel des Wohnorts dürften Arbeitsplatzsuche und Heirat gewesen sein.
Die Bevölkerungsdichte war vierfach so hoch wie heute; besonders im Innenstadtsegment, das von Hohe Straße, Rhein, Mühlenbach, Filzengraben und Trankgasse begrenzt wird, waren die Einwohner auf wenig Raum zusammengedrängt. Für die gesamte Stadt hat Claudia Wendels, die Haus für Haus durchgegangen ist, herausgefunden, dass die Vorstellung, damals seien die Menschen zumeist unter einem Dach in Großfamilien eingebunden gewesen, nicht zutrifft: Unter den knapp 9000 Haushalten gab es nur etwa 350, in denen drei Generationen vertreten waren.
Weil in der Verwaltung die Sprache der neuen Herrscher maßgebend war, ist die Liste auf Französisch abgefasst. Katharina wird zu Catherine, Franz zu François, Knopfmacher zu Boutonnier. Viele Straßennamen waren bereits umbenannt worden; so stößt man auf die Rue de coq (Hahnenstraße), die Rue des cloches (Glockengasse) und die Rue d’honneur (Ehrenstraße). Andere deutsche Namen blieben unangetastet, unterscheiden sich aber von der heutigen Form, darunter „Kriegmarck (Griechenmarkt), Hohnpfort (Hohe Pforte) und Tranckgass (Trankgasse). Den Auftrag, Straßennamen französisch umzumodeln, hatte Ferdinand Franz Wallraf erhalten, Universalgelehrter, Priester, Kunstsammler und Begründer des Kölner Museumswesen. Er taucht in der Liste ebenso auf wie der Sulpiz Boisserée, der sich schon als junger Mann für die Vollendung des Doms einsetzte, Johann Maria Farina („Destillateur“) und Wilhelm Mülhens („Kaufmann“), deren Namen eng mit Eau de Cologne verbunden sind, sowie Salomon Oppenheim, seinerzeit Kaufmann und später Bankier.
Drei dicke Bände liegen übereinandergestapelt vor Claudia Wendels, die an einem der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Kölner Universität angegliederten Institut arbeitet und daneben drei Kinder aufgezogen hat. Die Arbeit, die 523 Folio-Seiten der Liste, deren Original im Landesarchiv NRW in Duisburg liegt, zu erfassen, hat sie vor allem abends geleistet. „Wenn mein Mann »Tatort« guckte oder mit Freunden im Biergarten war, habe ich Seiten abgetippt.“ Was kommt als Nächstes? Vielleicht eine Längsschnittuntersuchung: Gerne würde Claudia Wendels einmal anhand von Bevölkerungslisten die Entwicklung eines Orts über 100 Jahre verfolgen. Da fällt ihr noch ein Detail ein, das die Erforschung der Kölner Bevölkerung in der Franzosenzeit ergeben hat: Der häufigste Jungenname war Johann, der verbreitetste Mädchenname Anna.
Claudia Wendels: Die Bevölkerungs- und Sozialstruktur der Stadt Köln um die Jahrhundertwende 1899/1801. Drei Bände, 1507 Seiten, Selbstverlag. 89 Euro zzgl. 9 Euro Versandkosten. Mehr Infos unter www.bevoelkerungsliste-koeln.de.