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Reker im Interview über das Attentat„Unrat muss man vorbei schwimmen lassen“

Lesezeit 11 Minuten
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Oberbürgermeisterin Henriette Reker

  1. Am Samstag jährt sich das Messer-Attentat auf Oberbürgermeisterin Henriette Reker zum fünften Mal.
  2. Den Täter Frank S. schickte das Düsseldorfer Oberlandesgericht für 14 Jahre ins Gefängnis.
  3. Vorsitzende Richterin damals war Barbara Havliza, inzwischen Justizministerin von Niedersachsen. Ein Interview über das Attentat, Anfeindungen und den Mut zu mehr Zivilcourage.

Köln – Schon während des Prozesses im Sommer 2016 war zu spüren, dass Barbara Havliza (CDU) und Henriette Reker (parteilos) sich auf Anhieb gut verstanden. Sie waren auf einer Wellenlänge. Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ äußern sich beide Politikerinnen erstmals in einem gemeinsamen Interview.

Sie beide sind sich am 28. April 2016 das erste Mal begegnet, im Gerichtssaal. Frau Havliza, welchen persönlichen Eindruck haben Sie damals von Ihrer Zeugin gewonnen?

Barbara Havliza: Ich kann mich noch gut erinnern. Frau Reker war absolut nicht die klassische Opferzeugin. Sie ist als Profi da herangegangen. Sie war äußerst kontrolliert und sehr bemüht, die Dinge sachlich und emotionsfrei darzustellen. Das war schon auffällig. Sie hatte sich im Griff. Das ist bei Opferzeugen nicht selbstverständlich, vor allem dann nicht, wenn sie so traumatische Erlebnisse hinter sich haben. Ich fand die Kommentare in den Zeitungen anschließend sehr passend, die sagten, da sind zwei weibliche Profis aufeinander gestoßen, die sich auf Augenhöhe unterhalten haben. Ich weiß nicht, wie Sie das in Erinnerung haben, Frau Reker, aber es gab auch gar nicht viele Nachfragen, weil wir beide das Thema im Grunde gut abgearbeitet hatten, oder?

Alles zum Thema Henriette Reker

Reker: Ja, genau so habe ich es auch empfunden.

Hier lesen Sie mehr: Rechtsradikales Attentat auf OB-Kandidatin in Köln

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Henriette Reker beim Online-Interview mit Barbara Havliza.

Frau Reker, wie haben Sie sich während Ihrer Aussage gefühlt?

Henriette Reker: Ich habe ja selbst Jahrzehnte vor Gericht gestanden, nicht als Zeugin, aber als Anwältin. Deswegen war mir die Situation nicht unbekannt. Mich hat aber gestört, und das habe ich dem Generalbundesanwalt auch später gesagt, dass der Attentäter in meinem Rücken saß.

Havliza: Der saß schräg hinter Ihnen, richtig?

Reker: Ja, genau, ich konnte ihn nicht sehen. Das fand ich ausgesprochen unangenehm. Es ist ja so, dass der Gerichtssaal für Staatsschutzverfahren so gebaut wurde, dass das Gericht alle Anwesenden im Blick hat. Aber für eine Zeugin, die gleichzeitig Opfer ist, ist das schwierig.

Havliza: Das verstehe ich.

Reker: Ich habe mich dann mit meinem Blick immer an Ihnen als Vorsitzende festgehalten. Ich habe gar nicht nach hinten geguckt.

Havliza: Ja, wir haben uns gegenseitig an unseren Blicken festgehalten. Das war ein sehr schwieriger Angeklagter. Mit seiner narzisstischen Persönlichkeit ertrug er es einfach nicht, dass er nicht ständig das Wort ergreifen konnte. Er wollte Ihnen immer ins Wort fallen. Er wollte sich doch auch noch bei Ihnen entschuldigen. Aber Sie haben darauf sehr kühl und wunderbar reagiert und gesagt, das wollten sie jetzt mal hier in diesem Saal so nicht annehmen. Fertig, Situation durch. Frau Reker war schon eine außergewöhnliche Zeugin. Sie war auch körperlich wieder vollständig genesen, was bei einer so schweren Verletzung ja fast an ein Wunder grenzte.

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Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza

Frank S. wurde schließlich zu 14 Jahren Haft verurteilt. Waren Sie mit dem Urteil einverstanden, Frau Reker?

Reker: Ja, das war ich, auch mit dem gesamten Prozessverlauf. Ich hatte nur damals nicht verstanden, warum neben dem Mordmerkmal Heimtücke nicht auch das Mordmerkmal niedrige Beweggründe herangezogen wurde. Ich habe mir das dann mal erklären lassen. Es fehlte wohl der subjektive Tatbestand. Das heißt, der Täter hatte nicht die Einsichtsfähigkeit, diese niedrigen Beweggründe seiner politisch motivierten Tat einzusehen. Sondern der war eben der Meinung, die Flüchtlingspolitik sei zu missbilligen und er würde der Gesellschaft einen Dienst tun, wenn er meine Wahl zur OB verhindere.

Frau Havliza, Sie dürfen sich im Nachhinein nicht zu Interna Ihrer damaligen Urteilsfindung äußern, aber Sie haben gerade genickt. Frau Reker hat das so richtig verstanden?

Havliza: Ja. Grundsätzlich, ohne auf den Einzelfall einzugehen, ist das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes bei religiös und politisch motivierten Straftaten immer besonders schwierig anzunehmen beziehungsweise eben nicht anzunehmen. Aber wenn man da nicht in die juristische Tiefe einsteigt, ist das für Betroffene tatsächlich schwer zu verstehen.

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Als Richterin am Staatsschutzsenat in Düsseldorf haben Sie viele große Prozesse geführt: gegen Terroristen, Islamisten, Rechtsextreme. Im Zuge dessen wurden Sie oft beleidigt, auch bedroht. Ist das mit Ihrem Wechsel in die Politik vor drei Jahren eher noch schlimmer geworden, oder hat es abgenommen?

Havliza: Nicht schlimmer, sondern anders. Vieles hat sich fortgesetzt. Ich war vor einem Jahr als Zeugin in einem großen Staatsschutzverfahren geladen. Das hat auch wieder Zorn im Internet hervorgerufen. Aber jetzt, als Ministerin, kann ich eben auch viele Dinge gestalterisch umsetzen. Ein Beispiel: Ich bin eindeutig dafür, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften vollkommen neutral aufzutreten haben. Damit geht einher, dass religiöse und weltanschauliche Symbole auf der Richterbank nicht erlaubt sind. Die Robe ist das Symbol, dass da nicht die Person sitzt, sondern der Richter als neutrales Organ der Rechtspflege. Das haben wir hier in Niedersachsen in ein Gesetz formuliert. Seitdem dürfen zum Beispiel Musliminnen im Gerichtssaal kein Kopftuch tragen. Im Büro ja, aber eben nicht hinter der Richterbank. Da schlugen zornige Kommentare hoch. Aber das gehört eben auch dazu.

Haben Sie auch gravierende Fälle von Bedrohungen erlebt?

Havliza: Ja, es gibt solche Vorfälle, die ich selber aber oft gar nicht mitbekomme. Vieles wird von meinem Büro abgefangen. Einige Zeit nach dem schrecklichen Ereignis in Kassel (dem Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke 2019, d. Red.) gab es so eine Drohung: „Warte mal ab, sie ist die nächste“. Dann wurden die Schutzmechanismen hochgefahren, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Aber mich beunruhigt das weniger als die Tatsache, dass sich der Ton und der Respekt vor Amts- und Mandatsträgern allgemein immer weiter herunterschraubt und dass das Thema „Hatespeech“ immer größeren Raum einnimmt. Frau Reker hat ja der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller mal den Heinrich-Böll-Preis verliehen…

Reker: Ja, das war an meinem ersten Tag im Amt damals nach dem Attentat, dafür bin ich extra schnell gesund geworden.

Havliza: Herta Müller hat damals einen Satz gesagt, den ich immer wieder zitiere: „Erst gehen die Gedanken spazieren, schließlich die Messer.“ Aus den Worten folgen Taten. Und das beobachte ich: dass sich die Worte unglaublich verschärfen. Teilweise auch gedeckt durch die Anonymität des Internets. So viel Hass und Häme würden die wenigsten von Angesicht zu Angesicht über andere ausgießen. Diese Radikalisierung im Netz, wo man seine Peergroups findet, ist etwas, auf das wir sehr genau Acht geben müssen und wo wir deutlich gegen angehen müssen.

Reker: Ich finde, dass man damals – und das sage ich nicht, weil ich mich wichtig nehmen möchte – aus dem Attentat auf meine Person politisch zu wenig gemacht hat. Der Generalbundesanwalt hatte das Verfahren zwar übernommen, aber es musste erst noch viel Schlimmeres passieren – der Mord an Walter Lübcke. Ich bin sehr froh, dass wir mit Christine Lambrecht jetzt eine Bundesjustizministerin haben, die das als Problem erkannt und aufgegriffen hat. Denn das Thema hat sich in den vergangenen fünf Jahren verschlimmert, nicht verbessert.

Sie standen während Ihres OB-Wahlkampfes zuletzt auch wieder teilweise unter Polizeischutz. Was sind das konkret für Beleidigungen und Drohungen, die Sie erhalten, Frau Reker?

Reker: Es sind Mails und Beschimpfungen in sozialen Netzwerken, aber auch Briefe. Ich wiederhole den Wortlaut hier aber nicht, weil es diejenigen, die das schreiben, dann noch freut, dass sie so eine Popularität erreichen. Das finde ich unangemessen.

Aus welcher Ecke kommen die meisten Bedrohungen ?

Reker: Bei mir aus der rechtsradikalen Ecke.

Havliza: In den islamistischen Foren bin ich ein Feindbild mit meiner Haltung und dem, was ich verhandelt habe. Ansonsten würde ich auch sagen, es ist mehr die rechte Szene, die sich da hervortut.

Wie wehren Sie sich?

Havliza: Die zuständige Abteilung im Ministerium erstattet Strafanzeige. Das haben wir übrigens auch bei uns in die Gerichte und Staatsanwaltschaften gegeben, dass wir aufhören sollen, immer so vornehm zu sagen: Wir zeigen das nicht an, das gehört zur Jobbeschreibung. Nein, ich erachte es für wichtig, dass die Dinge aktenkundig werden und angezeigt werden – um die Dimension zu erfassen und damit der Absender, falls er ermittelt werden kann, Post von der Staatsanwaltschaft und vom Gericht bekommt. Er soll merken, dass man so etwas nicht ungestraft tun kann. Ich selber reagiere relativ gelassen. Ich bemühe mich darum, mich ich meiner Lebensqualität dadurch nicht einschränken zu lassen. Ich bin Gott sei Dank nicht angstbegleitet.

Reker: Das merkt man auch.

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Frau Reker, gab es bei Ihnen mal einen Moment, in dem Sie sich gefragt haben, ob es das alles noch Wert ist?

Reker: Nein. Es ist es wert, und ich bin der festen Überzeugung, wenn man Kommunalpolitik macht, muss man die Nähe nicht nur zulassen, sondern man muss sie mögen. Und diese Risiken muss man eingehen, ohne viel darüber nachzudenken.

Havliza: Genau.

Reker: Ich werde oft von Kolleginnen und Kollegen angerufen, die beleidigt oder bedroht werden und einen Rat von mir haben möchten. Aber ich bin da keine gute Ratgeberin, weil ich mit so etwas sehr gelassen umgehe. Unrat muss man vorbei schwimmen lassen. Ich ärgere mich immer nur kurzfristig über Dinge. Die gehen bei uns auch sofort zur Staatsanwaltschaft. Als Kommunalpolitiker muss man eine Menschenliebe mitbringen. Man muss die Mehrheit mehr lieben als man die wenigen ablehnt.

Viele Kommunalpolitiker haben aber auch hingeworfen, weil sie den Hass nicht länger ertragen haben oder Angst hatten um ihre Familien. Frau Havliza, Sie haben Kinder und Enkelkinder, wie geht Ihre Familie damit um?

Havliza: Es ist so, wie Frau Reker sagt. Dieses Amt ausüben zu dürfen, ob als OB oder als Ministerin, mit all seinen gestalterischen Möglichkeiten, ist es allemal wert, das auch auszuhalten. Meine Familie sieht das Gott sei Dank auch so. Wäre das anders, hätte ich ein Problem. Ich kann jeden verstehen, gerade auch die ehrenamtlich tätigen Mandatsträger, die irgendwann sagen: Mir reicht’s, ich habe Sorge um meine Familie, ich mache das nicht mehr. Und da sage ich: Da dürfen wir nicht schweigen, das ist ein Frontalangriff auf unsere Demokratie. Wenn das Schule macht und wir uns alle zurückziehen, dann haben die gewonnen. Dann haben wir genau das demokratische Chaos, was die anstreben. Wir dürfen uns nicht zurückziehen. Wir haben in Deutschland weltweit eine der besten Demokratien. Wenn wir die erhalten wollen, müssen wir auch dafür aufstehen.

Vor allem für Normalbürger, die Opfer von Anfeindungen und Beleidigungen im Netz sind, ist es aber oft ein steiniger Weg, sich zu wehren: Strafanzeigen werden meistens eingestellt, weil das öffentliche Interesse fehlt, Privatklagen kosten Geld. Wie kann der Staat diese Menschen besser schützen und unterstützen?

Reker: Wir brauchen mehr politische Bildung in den Schulen. Wir müssen die Parteien unterstützen, die ja politische Bildung vermitteln. Und wir müssen die jungen Demokraten stärken. Ihnen vermitteln, wie man Zivilcourage ausdrücken kann, in dem man sich an die Seite des Opfers stellt, sich traut zu sagen: Das ist nicht in Ordnung, da mache ich nicht mit. Was mich so bedrückt, ist, dass es ja auch Polizisten so geht, Feuerwehrleuten, Rettungssanitätern. Das müssen wir aufhalten. Dazu gehört eine gesellschaftliche Wertschätzung dieser Berufe. Dazu gehört aber auch eine politische Debattenkultur. Wenn die Politiker sich im Rat schon unter der Gürtellinie angreifen und sich gegenseitig keinen Respekt einräumen, dann bietet das schon ein Biotop, das ich nicht haben möchte.

Havliza: Das Ganze hat zwei Dimensionen. Die juristische ist: Wie gehe ich mit Strafanzeigen um? Ich ermutige jeden, so etwas anzuzeigen. Wer Hilfe braucht bei der Anzeigenerstattung, auch finanzieller Art, kann sich in NRW wie in Niedersachsen an Opfereinrichtungen wenden, die da ein Stück weit begleiten. Ich habe mit meinen drei Generalstaatsanwälten Richtlinien erarbeitet, wonach solche Verfahren bei Mandatsträgern, Polizeibeamten, Feuerwehrleuten und Hilfeleistenden im Regelfall nicht mehr eingestellt werden dürfen.

Reker: Das ist gut!

Havliza: Das andere ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Warum verroht unser Miteinander in Sprache und Handeln immer mehr? Da muss ich in den Schulen und Kitas anfangen: Wertevermittlung, gegenseitiger Respekt, Rücksichtnahme. Wir als Politiker müssen es vorleben – im Rat, im Landtag, im Bundestag. Aber wenn Sie da teilweise den Sprachgebrauch miterleben, gruselt es einen. Wir müssen als Gesellschaft Flagge zeigen. Wenn man in der Gaststätte so manche Parole am Nebentisch mitbekommt, müsste man die Zivilcourage haben, aufzustehen und zu sagen: Was redet ihr da eigentlich? Das wird aber wenig gelebt. Man kann nicht alles auf Polizei und Justiz schieben. Wir sind am Ende der Fahnenstange. Wenn es da ankommt, ist es ja schon zu spät. Wir müssen präventiv rangehen, damit das Phänomen wieder zurückgeht, was uns da seit rund zehn Jahren überrollt.