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Dramatische KonsequenzenWas das Ende des Anonymen Krankenscheins in Köln bedeuten würde

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Alois Bergmeister in der Praxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM).

Alois Bergmeister ist Patient in der Praxis der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM).

Weil Geld in der Haushaltskasse fehlt, wird das Projekt in Köln wohl eingestellt. Zwei Fälle zeigen, welche schlimmen Folgen das haben kann.

Nachdem ihm sein Arzt Heinrich Flammang die schlechte Nachricht per Google-Übersetzer auf Rumänisch überbracht hat, sitzt Radu Andrici (Name geändert) mit leerem Blick auf dem Patientenstuhl und atmet schwer aus. Seit Jahren leidet der Rumäne an einer arteriellen Verschlusserkrankung im Bein. Sie sorgt für eine Störung der Durchblutung – und für Schmerzen, die immer stärker werden. Eine Operation sollte dem Leiden ein für allemal ein Ende bereiten. Flammang hatte alles vorbereitet. Doch in der Sprechstunde an einem Donnerstagmorgen Mitte Oktober musste Flammang ihm mitteilen: „Die finanziellen Mittel sind aufgebraucht, deswegen wird es erstmal keine Operation geben.“ „Eigentlich“, wird Flammang später sagen, „habe ich den tollsten Beruf der Welt. Aber solche Gespräche sollten nicht dazu gehören.“

Solche Gespräche muss Flammang nun allerdings regelmäßig führen, seitdem die Stadt angekündigt hat, das Projekt „Anonymer Krankenschein“ zum Jahresende einzustellen. Flammang ist pensionierter Arzt und engagiert sich seit vier Jahren ehrenamtlich bei der „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ (MMM). Die Praxis am St. Hildegardis Krankenhaus wird über Stiftungs- und Spendengelder finanziert. Ein Team aus 45 Freiwilligen behandelt und untersucht dort Menschen, die eine medizinische Versorgung brauchen, aber über keine Krankenversicherung verfügen. Andrici ist seit vier Jahren Patient bei Flammang. Der ehemalige Chirurg ist Experte für Gefäßerkrankungen, kennt sich mit Andricis Krankheit also aus. „Mit Medikamenten kann man nur die Symptome bekämpfen. Herr Andrici braucht eine Operation.“

Operation muss wegen Ende des Anonymen Krankenscheins abgesagt werden

Eine Aufgabe, die in der ehrenamtlichen Praxis nicht bewältigt werden kann. Es brauchte eine Überweisung an einen Spezialisten. Doch weil Andrici nicht krankenversichert ist, war das kaum möglich. Als die Stadt 2023 den Anonymen Krankenschein einführte, sah Flammang die Chance für seinen Patienten gekommen. Durch den Anonymen Krankenschein können Patienten ohne Krankenversicherung ambulant oder stationär an Experten überwiesen werden, auch Rezepte können so ausgestellt werden.

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Und tatsächlich wurde die Operation für Andrici bewilligt. Doch weil die Stadt das Projekt nun einstellt, muss auch die Operation abgesagt werden. Die Konsequenz: „Wenn die Erkrankung weiter unbehandelt bleibt“, erklärt Flammang, „läuft es darauf hinaus, dass Herr Andrici irgendwann als Notfall im Krankenhaus landet und sein Bein amputiert werden muss.“ Ein Anrecht auf eine Prothese habe Andrici dann ebenfalls nicht. Der Fall zeige, „welche dramatischen Konsequenzen der Wegfall des Anonymen Krankenscheins für viele Menschen haben wird.“

Heinrich Flammang in seiner Sprechstunde bei den Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM)

Heinrich Flammang mit seinem Patienten Radu Andrici (Name geändert) in seiner Sprechstunde bei „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ (MMM)

Auch Alois Bergmeister könnte diese Konsequenzen bald zu spüren bekommen. Der 87-Jährige ist wegen einer Kontrolluntersuchung in die Sprechstunde von Flammang gekommen. Er stammt aus Norditalien, hat in Köln lange als Koch gearbeitet, erzählt er. Sein Arbeitgeber habe ihn aber nie angemeldet, Kranken- und Rentenversicherung wurden deswegen nicht bezahlt. „Ich war überfordert von Behörden, fremde Menschen haben mir immer Angst gemacht“, erzählt er. „Wie lange ich insgesamt versichert war, weiß ich gar nicht.“

Vor 15 Jahren wurde bei Bergmeister Krebs in der Harnblase diagnostiziert. Damals konnte der Krebs entfernt werden. Ende September wurde er allerdings als Notfall in eine Klinik eingeliefert – wegen einer Blutung in der Harnblase konnten sich die Nieren nicht mehr entleeren. Die Blutung wurde zwar entfernt, aber die Befürchtung, dass der Krebs zurückgekehrt sein könnte, konnte bisher nicht vollständig ausgeräumt werden. „Wenn das so sein sollte, was ich nicht hoffe, stehen ihm keine Behandlungen zu – bis es zu spät ist und der Krebs so weit fortschreitet, dass er wieder als Notfall in der Klinik landet“, erklärt Flammang.

Dass es in Deutschland keine Menschen ohne Krankenversicherung gibt, sei ein weitverbreiteter Irrtum, so Flammang. Das sehe man jeden Donnerstag in seiner Sprechstunde. „Die Betroffenen sind sehr divers, es sind nicht nur Geflüchtete, sondern auch etwa der selbstständige Handwerker, der nach einer Pleite seine private Krankenversicherung nicht mehr zahlen kann.“

Endgültige Entscheidung trifft der Stadtrat im November

Die Abschaffung des Anonymen Krankenscheins sei nicht nur aus menschlicher, sondern auch aus finanzieller Sicht eine Fehlentscheidung. Denn sie führe dazu, dass in den Kliniken mehr Notfälle auflaufen, die behandelt werden müssen. Das zeige auch der Fall Andrici: „Ihn jetzt zu operieren, wäre nicht nur besser für ihn, sondern auch günstiger. Denn wenn er als Notfall in die Klinik kommt, muss er behandelt werden – und das ist teurer als eine sofortige Operation“.

Ende August hat die Verwaltung mitgeteilt, dass das Projekt nicht mehr weitergeführt wird. Und das, obwohl Sozialdezernent Harald Rau im März gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ sagte: „Es hat sich gezeigt, dass wir mit dem Anonymen Krankenschein unser Angebot für Menschen ohne Zugang zum Regelsystem verbessern können.“ 188 Krankenscheine wurden zwischen Juli 2023 und Juni 2024 ausgegeben, 448 Beratungsgespräche durchgeführt. Als Grund für das Ende des Projekts nennt die Stadt die schwierigen Haushaltsplanungen. Die Ausgaben von rund 400.000 Euro im Jahr sind im kommenden Haushalt nicht mehr vorgesehen.

Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats, nannte das einen „Offenbarungseid“. Der Integrationsrat hat die Verwaltung Mitte Oktober noch einmal aufgefordert, eine Weiterführung zu prüfen. Und auch Flammang kämpft weiterhin dafür, dass Patienten wie Andrici und Bergmeister die medizinische Versorgung bekommen, die sie brauchen. „Die Entscheidung hat mich tief getroffen, sehr enttäuscht und verärgert.“ Für ihn ist nicht nachvollziehbar „wie dafür kein Geld mehr da sein kann, während fast 1,5 Milliarden Euro für die Oper ausgegeben werden.“

Zwar habe sich der Anonyme Krankenschein bewährt, sagt am Montag auch eine Sprecherin der Stadt auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Leider war die Finanzierung bis Jahresende 2024 befristet und die Weiterfinanzierung in der mittelfristigen Haushaltsplanung nicht vorgesehen. Die Aufstellung eines Haushaltsplans ab 2025 gestaltet sich als enorm herausfordernd, und es ist derzeit nicht absehbar, ob die Finanzierung fortgeführt werden kann.“ Über den Haushalt entscheide aber der Stadtrat. Der will im November den Haushalt für 2025/26 verabschieden. Dann entscheidet sich womöglich auch, wie es für Menschen wie Andrici und Bergmeister weitergeht.