Köln – Nach der Anordnung von Untersuchungshaft gegen den Priester und mutmaßlichen Missbrauchs-Serientäter Hans Ue. wegen Wiederholungsgefahr erhebt der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller den Vorwurf des Mitverschuldens gegen die Kölner Bistumsleitung.
Kardinal Rainer Woelki und sein Generalvikar Markus Hofmann hätten eklatant gegen Vorgaben der bischöflichen Leitlinien verstoßen. „Dass es offenbar noch 2019 erneut zu Übergriffen durch Ue. kommen konnte, ist auch einem verantwortungslosen Umgang der Bistumsleitung mit einem Langzeit-Sexualtäter geschuldet. Erzbischof und Generalvikar haben ihre Aufsichts- und Kontrollpflicht in skandalöser Weise verletzt“, sagte Schüller dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Auch nach einem öffentlichen Betätigungsverbot vom 4. April 2019 keine wirksamen Maßnahmen ergriffen zu haben, um einen Kontakt Ue.s zu Minderjährigen auszuschließen und damit neue Missbrauchstaten zu verhindern, sei „absolut verwerflich“.
Generalvikar Markus Hofmann „zutiefst erschüttert“
Weihbischof Rolf Steinhäuser, der in der Zeit von Woelkis Beurlaubung durch Papst Franziskus das Erzbistum verwaltet, wollte sich auf Anfrage unter Verweis auf das laufende Verfahren nicht persönlich äußern. Hofmann sagte, er sei „zutiefst erschüttert über das, was da erkennbar wird“.
In der Sache erklärte das Erzbistum: Das Dekret, das Ue. die Ausübung seines priesterlichen Dienstes untersagt, impliziere ein Kontaktverbot zu Kindern und Jugendlichen im Rahmen des priesterlichen Dienstes. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ enthält der Standardtext hierzu aber keine ausdrücklichen Auflagen, geschweige denn Bestimmungen zu privaten Kontakten.
Mädchen als Übernachtungsgäste
Im Strafprozess kam zur Sprache, dass Ue. auch in der jüngeren Vergangenheit Mädchen zur Übernachtung in einem von ihm als Wohnsitz erworbenen ehemaligen Pfarrhaus in einem Zülpicher Ortsteil gehabt haben soll.
Das Erzbistum betonte, der Euskirchener Kreisdechant Guido Zimmermann sei „zeitnah über das Dekret informiert“ worden mit dem Auftrag, für dessen Überwachung zu sorgen. „Weitere Formen der Kontrolle zur Einhaltung des Dekrets gibt es im Erzbistum Köln derzeit noch nicht.“ Genau deshalb habe inzwischen eine „Kommission zur Kontrolle beschuldigter und straffällig gewordener Kleriker“ ihre Arbeit aufgenommen. Diese befinde sich „in der Umsetzung“.
Zu strengster Vertraulichkeit verpflichtet
Aus Zimmermanns Befragung durch das Landgericht am 11. Januar ergab sich, dass die Bistumsleitung in Köln spätestens Ende 2018 von einem Gefahrenpotenzial ausging, aber allenfalls halbherzig reagierte. Generalvikar Hofmann erkundigte sich kurz vor Weihnachten 2018 in einem informellen Telefonat bei Zimmermann nach Ue.s Aufgaben und ob dieser dabei mit Kindern und Jugendlichen zu tun habe. Gründe für seine Fragen nannte Hofmann nicht, empfahl einen Einsatz Ue.s fern von Kindern und verpflichtete Zimmermann zu strengster Vertraulichkeit. „Ich habe ihn für das Thema sensibilisiert und ihm mitgeteilt, dass er bald Weiteres hören werde“, notierte Woelkis Verwaltungschef in einem Vermerk.
Einsatz bei der Erstkommunion
Tatsächlich hatte Zimmermann Ue., der ihm 2016 als Hilfsgeistlicher „zur besonderen Verfügung“ zugeteilt wurde, sporadisch auch für Gottesdienste im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung eingesetzt. „Auf jeden Fall“ habe Ue. zu Messdienerinnen und Messdienern Kontakt gehabt. „Pfarrer Ue. war den Mädels sehr geschätzt“, sagte Zimmermann vor Gericht aus. Nach dem Gespräch mit Hofmann habe er sich „so seine Gedanken“ gemacht, „das gebe ich zu“.
Dass im Jahr 2010 staatliche Ermittlungen gegen Ue. wegen eines Verdachts auf Missbrauch seiner drei Nichten in den 1990er Jahren geführt worden waren und Ue. damals schon einmal vom priesterlichen Dienst beurlaubt war, wusste Zimmermann nach eigenem Bekunden nicht. Er habe fortan darauf geachtet, dass Ue. nicht in die Kommunionkatechese eingebunden würde. Doch ansonsten „liefen die bisherigen Kontakte weiter wie bisher.“ In der Kirche sei ja „immer der Küster dabei“ gewesen. Dass Ue. im privaten Bereich offenkundig im Kontakt mit Minderjährigen stand, war Zimmermann unbekannt. Auf die Information zu den Übernachtungen in Ue.s Haus reagierte er frappiert.
Mehrmonatiger Schwebezustand
Schüller bezeichnete schon den Schwebezustand zwischen Dezember 2018 und dem Erlass des Dekrets vom April 2019 als massive Verletzung der kirchlichen Leitlinien zum Umgang mit Fällen von Missbrauchsverdacht. Das Erzbistum nutzte diese Zeit für eine Voruntersuchung zum Fall der drei Nichten, die nach einem Vorstoß des damaligen kirchlichen Interventionsbeauftragten Oliver Vogt eine ergebnislos gebliebene Anzeige von 2010 erneuerten und das Verfahren damit neu in Gang brachten.
Nach Schüllers Worten verlangen die Leitlinien, dass der zuständige Bischof bereits bei ersten Anhaltspunkten für möglichen Missbrauch durch einen Kleriker alles dafür tun muss, dass keine weitere Gefahr für Kinder und Jugendliche ausgeht. Erst recht hätte die Bistumsleitung dies mit Erlass des Dekrets gewährleisten müssen, so Schüller weiter. Im Bistum Essen etwa lasse Bischof Franz-Josef Overbeck einen Priester in vergleichbarer Situation wöchentlich durch einen eigenen Bewährungshelfer und einen Psychologen besuchen.
„Im Fall Ue. sind Woelki und Hofmann zumindest in einer moralischen Mithaftung“, sagte Schüller. „Wer noch 2018/19 die selbstverständlichen Schutzvorkehrungen unterlässt, hat eben gar nichts verstanden und kann im Grunde nicht mehr Bischof oder Generalvikar sein.“
Ue.s Strafverteidiger Rüdiger Deckers war für eine Stellungnahme zur Inhaftierung seines Mandanten am Freitag nicht zu erreichen.