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Trotz umstrittener WirksamkeitWarum die NRW-Regierung auf Tausende Bodycams setzt

Lesezeit 5 Minuten
Bodycam NRW

Eine Polizistin der Streifenpolizei führt eine Bodycam vor.

Köln – Die Attacke kam aus dem Nichts. Der Polizist Marius Rehberg wollte zwei Wildpinkler stellen, als er brutal zu Boden gestoßen wurde. Der Beamte zog sich dabei massive Rückenverletzungen zu, die ihm wohl lebenslang Schmerzen bereiten werden. Seit 2012 haben sich die Angriffe auf Polizisten in Köln auf 2000 Fälle im Jahr verdoppelt. Die NRW-Landesregierung will die Beamten jetzt durch den Einsatz von Bodycams besser vor Übergriffen schützen. „Ein Täter, der gefilmt wird, überlegt sich vielleicht noch einmal, ob er wirklich zuschlägt“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul. Denn er wisse, dass es gesicherte Beweise geben ihn geben werde.

Der CDU-Politiker stellte die Körperkameras am Mittwoch am Kölner Polizeipräsidium vor. Bis Ende 2020 will das Land insgesamt rund 9000 Kameras anschaffen. Die Bodycams sollen kritische Situationen im Streifendienst entschärfen. Dafür wird das Land rund sieben Millionen Euro investieren. Jede Doppelstreife soll künftig mit dem portablen System ausgestattet werden. Landesweit hatte sich die Zahl der Angriffe auf Polizisten im Jahr 2018 von 7041 um mehr als 400 Fälle auf 7479 Straftaten erhöht.

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Die Wirksamkeit der Bodycams ist unter Experten umstritten. Die rot-grüne Vorgängerregierung brachte daher bereits kurz vor der Landtagswahl 2017 ein Pilotprojekt auf den Weg. In den Kreispolizeibehörden Duisburg, Düsseldorf, Köln, Wuppertal und Siegen-Wittgenstein wurden die Geräte ein halbes Jahr im Einsatz getestet. Es seien bewusst Großstädte und ein ländlicher Raum für den Versuch ausgewählt worden, sagte Reul. Dabei sei festgestellt worden, dass die Geräte in der Praxis zu unhandlich und zu schwer gewesen seien. Deswegen habe man sich jetzt für leichtere Kameras entschieden.

Das Projekt war von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Gelsenkirchen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden. „Die Befunde der Videoanalyse, der quantitativen und qualitativen Befragungen belegen das deeskalative Wirkpotenzial von Bodycams in polizeilichen Einsatzsituationen“, heißt es in der 150-Seiten-Expertise, die dieser Zeitung vorliegt. Personen unter Alkohol- und Drogeneinfluss, Ruhestörer und renitente Jugendliche hätten sich von den Kameras beeindrucken lassen.Ein Polizist berichtet in der Studie von der unerwarteten Wirkung der eingesetzten Technik auf einen polizeibekannten Gewalttäter. Die Schilderung im Wortlaut: „Ich bin einer, der die Kamera eher zögerlich einschaltet, weil halt der erste Handgriff immer zum Störer hin ist. Der hat uns also fortwährend durchbeleidigt, hat bei Kollegen aus einer anderen Tour schon Widerstand geleistet, die auch verletzt. Als er dann überhaupt nicht aufgehört hat, die Beleidigungen auszustoßen, habe ich irgendwann daran gedacht, dass ich die Kamera dabeihabe und dem Kollegen gesagt, er soll sie mal einschalten. Und dann war eine komplette Kehrtwendung von seinem Verhalten (...), dass er dann angefangen hat zu heulen und sich entschuldigt hat.“Allerdings sind die Praxis- Tests nicht durchgehend positiv verlaufen. Der Versuch brachte sogar eine massive Schwachstelle ans Licht. In „Einzelfällen“ seien „unerwünschte Nebenwirkungen beobachtet worden“, heißt es in der Studie. Denn: Entgegen der Erwartung seien die Beamten mit Bodycam häufiger als die ohne Kamera angegriffen worden. Wie passt das mit der insgesamt positiven Gesamtbewertung zusammen?

Die Wissenschaftler erklären den Effekt damit, dass die Polizisten mit Bodycams viel zurückhaltender aufgetreten seien als üblich. Das Wissen darum, dass nicht nur das Verhalten der Verdächtigen, sondern auch das eigene Vorgehen dokumentiert wurde, habe zu einem defensiven Vorgehen geführt, dass Angreifer zu Übergriffen ermuntert habe. Wo sonst schon mal hart zugegriffen und geschimpft werde, hätten sich die Probanden mit der Bodycam einer „formalen Sprache“ bedient. Die Kameras würden aber nur dann ihren Sinn erfüllen, wenn sie das „einsatztaktisch adäquate Verhalten“ der Beamten nicht beeinflussen würden, warnen die Wissenschaftler.

Innenminister Reul will das Defensiv-Syndrom der Kamera-Polizisten durch Weiterbildungen kurieren. „Da müssen und werden wir mit Schulungen gegenarbeiten“, sagte der CDU-Politiker in Köln. „Denn eins ist doch vollkommen klar: Was bisher richtig und angemessen war, bleibt richtig und angemessen. Und was falsch war, bleibt falsch. Durch die Kameras ändert sich nichts.“ Er sei davon „überzeugt, dass sich die Polizisten an die Bodycams gewöhnen und ihre Zurückhaltung ablegen“ würden. In der Studie wurden die Kameras von je einem Drittel der Beamten als positiv, neutral oder negativ bewertet.

Videos als Beweismittel

Die Aufnahmen der Bodycams sollen in den Behörden auf lokale Rechner übertragen und dabei von der Kamera gelöscht werden. Sie bleiben 14 Tage auf dem Sicherungsrechner und können als Beweismittel genutzt werden. „Wenn wir die Polizei mit Bodycams ausstatten, dann brauchen wir auch moderne Rechner und neue Software, um die Bilder zu verwerten. Das alles muss außerdem den höchsten Sicherheitsstandards des Datenschutzes entsprechen“, sagte Reul. Modernisierung und Digitalisierung sei kein Selbstzweck.

Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte den Einsatz der Bodycams durch die Änderung des Polizeigesetzes auf eine Rechtsgrundlage gestellt. Sebastian Fiedler, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), verlangt, dass die Beamten „tatsächlich umfassend“ geschult werden: „Auch wenn eine Kameras auf der Schulter mitläuft, müssen die Beamten beherzt eingreifen, wenn es die Lage erfordert. Bodycams sollen die Beamten sichern und nicht bei ihrem Vorgehen gegen aggressive Personen hemmen.“ Michael Mertens, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, sieht das ähnlich: „Die Polizisten werden sich mit der Zeit an die Technik gewöhnen. Das geschieht umso schneller, wenn sie Vertrauen fassen, dass die Bilder nicht vor allem gegen sie selbst verwendet werden. Es wäre fatal, wenn die Polizei sich wegen der Kameras nicht mehr trauen würde, robust vorzugehen.“