Die Sanitäterin Julia „Taira“ Pajewska versorgte während der Belagerung von Mariupol Verwundete, bis sie selbst in russische Kriegsgefangenschaft geriet.
Sanitäterin besucht Blau-Gelbes Kreuz in Köln„Ich war mir sicher, dass ich in Mariupol sterben würde“
Tairas Blick hellt sich auf, als sie die Notfallrucksäcke in der Lagerhalle entdeckt. Mit wenigen Griffen öffnet sie zwei der Rucksäcke, breitet den Inhalt auf einem Tisch aus und inspiziert die Medikamente. „Davon ist etwas zu wenig im Rucksack“, sagt sie auf ukrainisch und hält eine Packung mit Verbandsmaterial und Tamponaden hoch. „Wir brauchen von einigen Sachen mehr, gerade bei der Behandlung von Minenverletzungen.“ Ihre Hände wühlen weiter durch den geöffneten Rucksack. „Habt ihr auch Scheren? Gut! In Mariupol hatte ich nur zwei Scheren, das war zu wenig“, sagt die Notfallsanitäterin. „Wir müssen ja häufig Kleidung aufschneiden.“
Nach einigen Minuten räumt sie die Ausrüstung zurück in den Rucksack, dreht sich zu den Helferinnen der ukrainischen Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz um und reckt beide Hände in die Höhe. „Ansonsten ist alles super“, übersetzt die Vorstandsvorsitzende Linda Mai. „Der Rucksack hat eine hohe Qualität.“ Das Blau-Gelbe Kreuz wird über hundert dieser Rucksäcke in die Ukraine liefern.
Die Sanitäterin Taira – eigentlich heißt sie Julia Pajewska – wurde mit Kriegsbeginn in der Ukraine zur Berühmtheit. Während über Mariupol die Bomben fielen, fuhr sie Einsätze, versorgte verletzte Zivilisten, ukrainische Militärs und russische Soldaten. Und sie filmte die Tage der Belagerung mit einer Kopfkamera. Kurz bevor sie selbst in russische Kriegsgefangenschaft geriet, schaffte sie es, die Speicherkarte einem internationalen Journalisten zu übergeben. Am Mittwoch besuchte sie in Köln das Lager der deutsch-ukrainischen Hilfsorganisation Blau-Gelbes Kreuz.
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Einsatz in Mariupol: „Die Menschen lagen gestapelt in den Krankenwagen“
Vor dem Lagereingang setzt sich Julia Pajewska auf einen Stuhl, eine Zigarette in der tätowierten Hand, die blonden Haare zu einem Zopf geknotet. Das Pseudonym „Taira“ gab sie sich im Jahr 2013, erzählt sie, während sie als freiwillige Sanitäterin verletzte Demonstranten der Maidan-Proteste in Kiew versorgte. Sie behielt den Namen, als sie sich ab 2014 um Kriegsverletzte im Donbass kümmerte, als sie zwei Jahre als Medizinerin in der ukrainische Armee diente, als sie im belagerten Mariupol Einsätze fuhr.
„Es war Zufall, dass ich überhaupt in Mariupol war“, sagt sie. Eigentlich habe sie nur Hilfslieferungen abliefern und direkt nach Kiew zurückkehren wollen, als Russland die Großstadt am Asowschen Meer einschloss und mit der Belagerung begann. Also meldete sich Taira bei den Einsatzkräften, versorgte Patienten und leistete erste Hilfe, bis die Ärzte im Krankenhaus die Verletzten übernahmen. „Teilweise lagen die Menschen gestapelt in den Krankenwagen und Evakuierungstransporten“, sagt Taira. „Die Lebenden und die Toten. Du musst sie herausholen und versuchen, den Lebenden noch zu helfen.“ Taira beschloss, das Grauen zu filmen. Damit die Welt die Hölle von Mariupol sieht. Also zog sie sich eine Kamera über die Stirn, die sie eigentlich für die Dokumentation einer paralympische Sportveranstaltung für Veteranen bekam. Taira sollte im Frühjahr 2022 bei den „Invictus Games“ für die Ukraine antreten.
Taira übergab die Speicherkarte einem Journalisten
Die Videos zeigen, wie Taira Hubschrauber zu Schwerverletzten auf den Straßen von Mariupol winkt, wie Sanitäter hektisch Tragen in ein Krankenhaus schieben, wie Taira einem Jungen die Augen zudrückt und weint, nachdem sie erfolglos versucht hatte, sein Leben zu retten. Sie zeigen, wie Taira neben ukrainischen auch russische Soldaten behandelt. „Bei der medizinischen Versorgung machen wir keinen Unterschied, ob die Verletzten Ukrainer oder russische Soldaten sind“, sagt sie.
Sie schaffte es, einem Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) die Speicherkarte mit ihren Videos zu überreichen, 254 Gigabyte hatte sie gefilmt. „Ich war mir sicher, dass ich in Mariupol sterben würde“, sagt Taira. „Diese Speicherkarte sollte als meine letzten Worte an diese Welt dienen.“ Am 15. oder 16. März, sie weiß es nicht mehr genau, gerät Taira in russische Kriegsgefangenschaft. Sie hatte versucht, mit den Frauen und Kindern, die Schutz im Krankenhaus gesucht hatten, Mariupol zu verlassen.
Taira will nur grob darüber sprechen, was sie während der Gefangenschaft erlebte. Wenn Russland erfährt, dass sie über diese Zeit öffentlich spricht, sagt sie, kann das lebensgefährlich sein für alle die Ukrainer, die noch immer in Kriegsgefangenschaft sind. Kurz vor der Gefangennahme hatte sie eine Prellung bei einer Explosion erlitten, medizinische Hilfe sei ihr verweigert worden. „Sie nahmen mir alles weg, was ich hatte. Selbst meine Brille.“ Einmal habe sie drei Tage lang kein Essen bekommen.
Podiumsdiskussion mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann
Die Soldaten hätten eine Kamera auf sie gerichtet, sie zu einem Geständnis aufgefordert. Sie solle zugeben, dass sie in Wirklichkeit eine Soldatin sei, eine Scharfschützin des Asow-Regiments, dass sie Menschen getötet habe. Taira verneinte alles. Zur Strafe sei sie gefoltert und geschlagen worden. Nach drei Monaten und einem Tag Kriegsgefangenschaft, kam Taira durch einen Gefangenenaustausch frei.
Seither reise sie viel, sagt Taira. Sie nennt sich eine „freiwillige Botschafterin.“ Um ihre Geschichte zu erzählen, von Mariupol zu berichten und sich bei Verbündeten und Helfern zu bedanken. „Danke, danke“, murmelt sie auf deutsch, während die stellvertretende Vorsitzende des Blau-Gelben Kreuzes ihre Worte aus dem Ukrainischen übersetzt. Am Donnerstag nimmt sie auf Einladung der Friedrich-Neumann-Stiftung an einer Podiumsdiskussion mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) teil.
Die Invictus Games in Den Haag verpasste Taira durch ihre Kriegsgefangenschaft. Stattdessen trat ihre 19-Jährige Tochter an: Sie gewann die Bronze-Medaille im Bogenschießen.