Im Umgang der Kölner Bistumsleitung mit Fällen sexuellen Missbrauchs in der Amtszeit von Kardinal Meisner rückt auch die Rolle seines Nachfolgers Rainer Woelki ins Zentrum.
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller spricht von einem „System Meisner“ mit weiteren Verantwortlichen.
Bleibt der Untersuchungsbericht einer Münchner Anwaltskanzlei aus Angst vor den Inhalten unter Verschluss?
Köln – Herr Professor Schüller, das von Kardinal Woelki beauftragte Rechtsgutachten über den Umgang der Kölner Bistumsleitung mit Missbrauchsfällen liegt nun seit März unter Verschluss, weil - so das Erzbistum - noch juristische Bedenken ausgeräumt werden müssten. Inzwischen kursieren aber verschiedene Berichte über Versäumnisse und Pflichtverletzungen ehemaliger und aktiver Funktionäre, die auch namentlich benannt werden. Wie beurteilen Sie die Situation?
Die Situation ist misslich und bizarr, weil durch die durchgestochenen Informationen an Dritte ein Kampf über die Deutungshoheit der Verantwortlichkeit in einem Fall von offensichtlich rechtswidrigem Umgang mit der Anzeige eines sexuellen Missbrauchs durch einen Kölner Priester zwischen Köln und Hamburg ausgefochten wird. Durch jede neue Wendung und Erklärung wird die Situation unübersichtlicher, und Gläubige müssen den Eindruck gewinnen, dass dies mit unabhängiger Aufklärung der Verantwortlichkeit, wie sie vollmundig versprochen wurde, nicht mehr viel zu tun hat.
Was halten Sie vom Argument des Erzbistums, das Gutachten müsse vor der Publikation wasserdicht sein?
Das Erzbistum nennt noch zu klärende persönlichkeitsrechtliche Fragen hinsichtlich Personen der Zeitgeschichte, die im Bericht genannt werden und noch leben. Dieses Argument wird immer häufiger in jüngster Zeit bei historischen Forschungen über Ereignisse der jüngsten Geschichte vorgetragen, und verhindert immer mehr eine unabhängige Aufklärung von Verantwortlichkeiten und letztlich freie Wissenschaft. Ich frage mich nur, warum braucht man hierfür inzwischen fast acht Monate? Und warum geht man nicht das kalkulierbare Restrisiko ein, nach der Veröffentlichung den einen oder anderen Rechtsstreit mit konkret im Bericht genannten Verantwortlichen des Erzbistums Köln zu führen. Von daher sollte der Kölner Kardinal den Untersuchungsbericht zeitnah der Öffentlichkeit vorstellen. Aber vielleicht sind Angst und die Panik vor der Wahrheit, die dort zu lesen sein wird, zu groß, so dass dann juristische Spiegelfechtereien möglicherweise vorgeschoben werden.
Der Fall eines Wuppertaler Priesters, der seine beiden Nichten vielfach und aufs Schwerste missbraucht haben soll, wurde 2010 kirchenrechtlich nicht weiter verfolgt. Durfte die Kirche sich nicht - wie die Staatsanwaltschaft - darauf berufen, dass die Betroffenen ihre Anzeige zurückgezogen hatten und dem Geistlichen kein Vergehen nachweisbar war?
Die kirchenrechtlichen Vorgaben der Päpste Johannes Paul II. (2001) und Benedikt XVI. (2010) sind in diesem Punkt klar: Jeder Anzeige und jedem Verdacht auf sexuellen Missbrauch in der Kirche ist konsequent durch den zuständigen Bischof und die von ihm mit der Untersuchung beauftragten Kleriker und weitere Personen seines Vertrauens nachzugehen. Von daher hätte man nach der Anzeige der Nichten, auch nachdem sie sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben, im näheren sozialen Umfeld der möglichen Opfer und des möglichen Täters weitere Nachforschungen anstellen müssen, um danach anschließend den Untersuchungsbericht nach Rom zu schicken. Dass dies nach der Aussage des Erzbistums Köln unterlassen wurde, ist ein offenkundig rechts- und pflichtwidriges Verhalten der Kölner Akteure.
Was ist die Aufgabe Roms?
Die zuständige Glaubenskongregation hat auf Basis des Aktenmaterials über das weitere kirchenrechtliche Vorgehen zu entscheiden. Spätestens seit 2010 haben alle deutschen Bistümer in solchen Fällen schon sicherheitshalber (via tutior) den Weg nach Rom beschritten, um sich später nicht nachsagen lassen zu müssen, sie seien nicht rechts- und sachgemäß mit solchen Anzeigen umgegangen.
Sie sprachen von mehreren Akteuren in Köln. Welche sind das im konkreten Fall?
Hier sind nach dem damaligen Erzbischof, Kardinal Joachim Meisner, dessen damaliger Personalchef Stefan Heße zu nennen, der Offizial (Kirchenrichter) Günter Assenmacher und Bistumsjustitiarin Daniela Schrader. Assenmacher wurde in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig mit vergleichbaren Fällen betraut. Weitere Akteure könnten mit dem Wuppertaler Fall ebenfalls befasst gewesen sein, was aber letztlich erst der Untersuchungsbericht erweisen wird. Hier ist zunächst an den damaligen Weihbischof und heutigen Kardinal Rainer Woelki zu denken, der als Regionalbischof für den Nordteil des Erzbistums zuständig war, und dann natürlich an das „Alter Ego“; des Erzbischofs, den damaligen Generalvikar und heutigen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp.
Warum Schwaderlapp?
Es gibt in solchen Fällen immer eine enge fachliche Absprache und Beratung zwischen dem Erzbischof und seinem Generalvikar, der - wie in den allermeisten Diözesen - auch direkt für relevante klerikerrechtliche Entscheidungen verantwortlich ist, ungeachtet der Zuständigkeit des Personalchefs.
Was hätten die genannten Akteure außer der Mitteilung nach Rom noch tun müssen?
Es wird zu untersuchen sein, ob sie in dem Wuppertaler Fall oder auch sonst eingehend die Vorgeschichte des beschuldigten Klerikers durchleuchtet haben. Als langjähriger Kirchenanwalt im Bistum Limburg kann ich berichten, dass die Personalakten oder das bischöfliche Geheimarchiv in solchen Fällen nicht selten Hinweise auf ein nicht adäquates Verhalten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen liefern. Damit erfahren dann aktuelle Vorwürfe eine gewisse Plausibilisierung, insbesondere dann, wenn sie sich auf länger zurück liegende Taten beziehen.
Die letzte Verantwortung in einem Bistum…
… trägt ganz klar der Erzbischof, rechtlich und – wenn Sie so wollen – auch politisch. In Köln kommt Kardinal Meisner für alle Vorgänge, die den sexuellen Missbrauch von Klerikern im Erzbistum Köln zwischen 1989 und 2014 angehen, die Schlüsselrolle zu. Es wird zu fragen sein, welche Haltung es im „System Meisner“ zu Fällen von sexuellem Missbrauch gab.
Zur Person
Thomas Schüller, geboren 1961, ist Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster. Von 1994 bis 2009 leitete er die Stabsstelle für kirchliches Recht im Bistum Limburg. (jf)
Ging man Anzeigen entschlossen nach, ohne Ansehen der Personen und der Institution Kirche? Oder wurde vertuscht und unter den Teppich gekehrt?
Genau. Die ersten vorliegenden Untersuchungen aus anderen Bistümern über diese Zeit belegen selbst bei angesehensten Bischöfen eine erschreckende Empathie- und Skrupellosigkeit im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt in der Kirche. Wenn man sich das von Kardinal Meisner propagierte Ideal des keuschen, heterosexuellen, lehramts- und bischofstreuen Priesters vor Augen führt, bekommt man eine erste Ahnung, welch massive Störung Anzeigen von sexuellem Missbrauch in diesem „heiligen klerikalen System“ auslösen mussten, in dem ausschließlich Männer alle Probleme diskret und verschwiegen unter sich ausmachen. Bedenkt man zudem, wie der strenge, zuweilen unbarmherzig auftretende Meisner mit katholischen Normabweichungen umgegangen ist, dann wird es spannend sein, was der Bericht zu seinem Umgang mit sexuellem Missbrauch enthüllen wird. Von daher ist es tatsächlich zu einfach, nur auf den heutigen Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, zu schauen. Ihn trifft eine Verantwortung, aber er war Teil des Systems Meisner, zu dem über viele Jahre auch Schwaderlapp gehörte – und Kardinal Woelki, Meisners früherer Geheimsekretär.