Am Morgen des 4. September 2015 verspricht der Referent Bernhard Kotsch der Bundeskanzlerin: „Heute wird es nicht so anstrengend.“ Auf Angela Merkels Tagesplan stehen Routine-Auftritte in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Zur selben Zeit beschließen auf einem völlig überfüllten Budapester Bahnhof zwei Flüchtlinge aus Syrien, in Richtung Deutschland aufzubrechen. Hunderte folgen ihnen auf die Autobahn.
Hinter den Kulissen
Mit dem Dokudrama „Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge“ rekonstruiert das ZDF die Zeit vom Morgen des 4. September bis zum 5. September. Obwohl das Drama schon seit einigen Monaten anhielt, gilt dieser Tag mit dem Entschluss Angela Merkels, die marschierenden Flüchtlinge aufzunehmen, als Zäsur. „Manchmal wirken solche Umbrüche gefühlt noch stärker als sie eigentlich waren, wenn sie sich mit Bildern und Begriffen von hoher Symbolkraft verbinden“, schreiben die ZDF-Verantwortlichen Peter Arens und Stefan Brauburger in ihrer Erklärung.
In Dokumentationen sind die entscheidenden Stunden schon mehrfach aufgearbeitet worden, so in der ARD mit „Drei Tage im September“ vor zwei Jahren. Das ZDF hat nun eine Kombination von Dokumentarischem, Interviews und Spielszenen gewählt, „um Geschichte hinter den Kulissen und jenseits bekannter Bilder erfahrbar zu machen“, wie das ZDF erklärt. In den Szenen des Marsches gehen nachgestellte und dokumentarische Bilder nahtlos ineinander über, bei den Szenen aus Deutschland dagegen bleibt die Trennung klar, belegen Einblendungen, von welcher Quelle die Bilder stammen.
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Während sich der sogenannte „March of Hope“, der Marsch der Hoffnung, in Richtung Österreich bewegt, versucht der Film bei den Spielszenen mit Angela Merkel, einen Einblick zu geben, wie Politik wirklich funktioniert, erklärt Marc Brost. Der Leiter des Hauptstadtbüros der Wochenzeitung Die Zeit ist neben Sandra Stöckmann Co-Autor des Drehbuchs. Politik funktionierte an diesem Tag mittels diverser Telefonate, die Angela Merkel zwischen all ihren Terminen und unterwegs im Auto führte, um mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann, mit Mitgliedern ihrer Regierung und mit dem Bundeskanzler Österreichs eine Haltung abzustimmen.
Einen ihrer Minister erreichte sie trotz vieler Versuche nicht: Horst Seehofer, damals CSU-Chef und Ministerpräsident des unmittelbar betroffenen Bundeslandes Bayern, ging einfach nichts ans Telefon. „Manch einer glaubt, wenn man nicht ans Telefon geht, sei man kein Teil der Folgen einer Entscheidung“, kommentiert Thomas de Maiziere diese Verweigerung – der damalige Innenminister ist neben Sigmar Gabriel der hochrangigste Interviewpartner im Film. Mit der Berlinerin Heike Reichenwallner hat der Regisseur Christian Twente eine überzeugende Darstellerin für die Rolle der Angela Merkel gefunden, die die Bundeskanzlerin nicht karikiert, sondern vielmehr deren trockenen Humor andeutet. Sie wollte in den Menschen Angela Merkel eintauchen – nicht in die Bundeskanzlerin, sagt die Schauspielerin.
Angst vor unschönen Bildern
Getragen wird der Film auch von Mohammad Zatareih, dem realen Anführer des Marsches und seinem Schauspiel-Double Aram Arami. Produzent Walid Nakschbandi konnte den Syrer nur mit viel Mühe überzeugen, noch einmal vor die Kamera zu treten. Der Mann, der in Zwickau lebt, wie sein sächsisch eingefärbtes Deutsch beweist, hatte Angst vor rechten Drohungen, zeigt aber noch einmal jene Courage, die ihn schon im September 2015 auszeichnete, als er für Hunderte Mitmarschierer Verantwortung übernahm und mit der Polizei aus Ungarn und Österreich verhandelte.Die Frage, ob Angela Merkel erwogen hatte, die Flüchtlinge notfalls mit Waffengewalt aufhalten zu lassen, bleibt hier unbeantwortet. Es ist aber unwahrscheinlich. Die Film-Kanzlerin assoziiert mit den Bildern von 2015 Szenen von DDR-Flüchtlingen 1989. Der Einzige, der im Film eine andere Entscheidung befürwortet, ist der damalige BND-Chef Gerhard Schindler, der im Interview der Bundesregierung unterstellt, sie hätte vor allem Angst vor unschönen Bildern gehabt und der betont: „Die Durchsetzung des Rechtsstaats produziert immer unschöne Bilder!“
„Stunden der Entscheidung“ endet mit dem Morgen des 5. September, als Angela Merkel auf der Fahrt ins Kanzleramt bereits den Gegenwind der kommenden Monate erahnt. Zitiert werden Drohungen wie „Wir werden sie jagen!“Das Resümee überlässt der Film aber Gerald Knaus, Vorsitzender der „Europäischen Stabilitätsinitiative“. Er zitiert Emmanuel Marcrons Äußerung, Angela Merkel habe die Seele Europas gerettet.
Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge Mi, 20.15 Uhr, ZDF
Deutschland und die Flüchtlinge. Die große Bürgermeister-Bilanz Do, 19.00 Uhr ZDFinfo
Migration – Das große Missverständnis
Do, 20.15 Uhr, ZDFinfo