Köln – Wenn sich die jungen Musiker der Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela zu fortgeschrittener Stunde in die Farben ihrer Nationalflagge hüllten und es auch musikalisch zügig in die Karibik ging, gab es in europäischen Konzerthäusern und auch in der Kölner Philharmonie (der Schreiber dieser Zeilen hat es persönlich erlebt) kein Halten mehr. Dann raste die Temperatur im Saal nach oben, dann flippte auch das gesittet erschienene Publikum schier aus ob der rauschhaften Vitalitätsschübe, die da vom Podium kamen.
Und das, obwohl die Auftritte der Formation, vorzugsweise unter ihrem langjährigen Dirigentenstar Gustavo Dudamel, auch zu ihren (vermeintlich oder tatsächlich) besseren Zeiten regelmäßig und hartnäckig von Kritik begleitet wurden – die sich lange Zeit allerdings nicht durchsetzen konnte. Sie galt auch nicht dem Orchester als solchem, sondern der dieses tragenden Institution: dem von dem 2018 verstorbenen José Antonio Abreu gegründeten und geleiteten „El Sistema“, das benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Venezuela eine intensive Musikausbildung ermöglicht.
El Sistema sei heute von den Vertretern der Maduro-Diktatur gekapert und nur noch eine Fassade, die mit der ursprünglichen Idee nichts mehr zu tun habe, klagte vor drei Jahren die illustre aus Venezuela stammende Pianistin Gabriela Montero im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Dudamel? „Ein Nutznießer der Diktatur, er hat Freunde und Unterstützer in der Regierung. Klar, dass er nichts gegen die Zustände sagt.“ Das stimmt allerdings nicht mehr. Der international arrivierte Dudamel, der jetzt in Madrid lebt, äußerte doch Kritik – und wurde vom Regime prompt zur Persona non grata erklärt.
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Vor kurzem nun wurden neue, nicht im engeren Sinn politische Vorwürfe gegen El Sistema öffentlich (rumort aus dieser Richtung hatte es schon länger), die geeignet sind, der einst glanzvollen internationalen Reputation der Vorzeigeeinrichtung (die sogar der Ruhrgebietsinitiative „Jedem Kind ein Instrument“ 2014/15 als Vorbild diente) endgültig den Todesstoß zu versetzen. Perspektivisch von der #MeToo-Debatte gerahmt, sieht sich El Sistema mittlerweile auf breiter Front der Beschuldigung ausgesetzt, die Musiklehrer der Institution nutzten ihre Position erpresserisch zum sexuellen Missbrauch zumal ihrer Schülerinnen.
Fehlende Transparenz
Los ging es mit einem Artikel in der „Washington Post“, in der der Musikwissenschaftler Geoff Baker – er hatte bereits 2014 in einem Buch über El Sistema fehlende Transparenz und eine Kultur des Verschweigens und Wegsehens moniert – unter Auswertung der Aussagen von direkt Betroffenen einschlägige Vorwurfe erhob. Sicher kann in so einem Fall immer üble Nachrede im Spiel sein; indes meldeten sich auf Bakers Beitrag hin immer mehr Leidtragende zu Wort, schienen sich geradezu Schleusen zu öffnen. Nach einer Rufmordkampagne sieht all das inzwischen nicht mehr aus.
Da klagt zum Beispiel eine Musikerin, sie sei als Zwölfjährige von zwei Oboenlehrern vergewaltigt worden – als Kompensation durfte sie unter Simon Rattle spielen. Andere Mädchen seien geschwängert geworden, hätten „toxische Beziehungen“ mit ihren Lehrern unterhalten.
Pädophile und Päderasten
El Sistema sei, so das Ex-Mitglied Angie Cantero, „durchseucht von Pädophilen, Päderasten und sehr vielen Menschen, die sexuellen Missbrauch begangen haben. Hinter der attraktiven Fassade verstecken sich viele ekelhafte Menschen, die es lieben, Mädchen und Teenager zu täuschen und ihre Machtposition und ihr Ansehen auszunutzen.“
Und schon 2016 erinnerte sich der Ex-El-Sistema-Geiger Luigi Mazzocchi im Musikmagazin „Van“, Lehrer-Schülerinnen-Beziehungen seien „die Norm“: „Die Lehrer sagten wirklich, sie hätten sexuelle Beziehungen mit ihren Schülerinnen, weil sie ihnen so tatsächlich helfen, bessere Musiker zu werden.“
Eine unerfreuliche Konstellation wird da erkennbar: Die Not und Abhängigkeit von sozial Benachteiligten wird brutal ausgenutzt; mucken sie auf, greift der institutionelle lateinamerikanische Machismo: Man entfernt die Mädchen aus dem System, die Taten werden vertuscht, und die Täter bleiben unbehelligt.
Misstrauen gegenüber Zusicherungen
Aufgrund dieser schlechten Erfahrungen misstrauen viele Betroffene auch den jüngsten Versicherungen von „El Sistema“. Im Juni veröffentlichte es ein Statement, in dem die Institution sexuellen Missbrauch verurteilt, sich mit den Opfern und deren Familien solidarisiert und versichert, den Anklagen juristisch nachzugehen.
Außerdem weist die Organisation auf den Krisenkontakt des Komitees zur Prävention und Aufklärung innerhalb der Institution und auf regelmäßige Kurse zu den Themen Prävention sexueller Gewalt, Kinderrechte, Gender-Diskriminierung und anderen Themen hin. Schließlich sei El Sistema Unicef-Botschafter.
Frühere Freunde und Förderer in Deutschland zeigen sich erschüttert und entsetzt von den Enthüllungen. Zu ihnen gehört Michael Kaufmann, ehemals Intendant der Essener Philharmonie, der zusammen mit dem Autor Stefan Piendl sogar ein Buch über das venezolanische Projekt schrieb. Er zeigt sich im Gespräch mit dieser Zeitung „geschockt“, betont aber, selbst seit Jahren zu El Sistema keine Verbindung mehr zu haben: „Das ist immer weniger geworden, seit unsere Kontaktleute nicht mehr da waren und Abreu starb.“ Kaufmann räumt ein, dass man sich habe „emotional gefangen nehmen lassen“. Und weil es an eigenen Recherchemöglichkeiten im Inneren des Systems gefehlt habe, habe man von der dunklen Kehrseite auch nichts mitbekommen.
Die Kritik an der Nähe von Il Sistema zu den Machthabern in Venezuela weist Kaufmann ein Stück weit zurück: „Abreu musste mit den Wölfen heulen – er wollte für Menschen etwas erreichen und war dabei auf die finanzielle Unterstützung von ganz oben angewiesen.“ Wer selbst in einer Demokratie lebe, tue sich leicht, „sich über die zu mokieren, die in einer Diktatur existieren müssen“.
Verbindung brach ab
Auch Ilona Schmiel, heute Intendantin der Zürcher Tonhalle, gehörte als langjährige Leiterin des Bonner Beethovenfestes zu den engagierten Förderern von El Sistema. Wie Kaufmann betont sie, lange keinen Kontakt mehr zu haben: „Die Venezolaner waren 2014 zum letzten Mal in Zürich, dann starb Abreu, die Gesprächspartner aus Bonner Zeiten waren nicht mehr im Management, und die Verbindung brach ab.“ Zweifellos habe auch die Verschärfung der politischen Situation sie nicht begünstigt.
Von den Missbrauchsvorwürfen hat Schmiel, wie sie sagt, „wie viele andere erst aus der Zeitung erfahren“. Sie sei mehrmals bei El Sistema in Venezuela gewesen, habe bei diesen Besuchen aber „nichts bemerkt“. Nun erwartet sie „konsequente Aufklärung“.