Köln – Ein paar Jahre galt die Oper als unspielbar – bis Michael Gielen im Februar 1965 den Sprung ins Dunkel wagte und Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ zur Kölner Uraufführung brachte. Nun, was Anfang der 60er Jahre als unspielbar galt, ist es heutzutage dank des technischen und auch künstlerischen Fortschritts nicht mehr.
Trotzdem bekommt der Besucher der neuen „Soldaten“-Produktion der Kölner Oper im Saal I des Staatenhauses mehr als nur eine Ahnung davon, warum das Werk seinerzeit auf dem Weg zur Bühnenrealisation so viele Stolpersteine vorfand: Nach wie vor ist hier ein gigantischer Aufwand erforderlich – mit einem orchestralen und vokalsolistischen Riesenaufgebot, mit „Haupt“- und drei „Hilfs“dirigenten“, verschiedenen Spielzentren, Live-Video, Tonbandzuspielungen. Und beim Rausgehen sieht man es: Das Ganze setzt sich, auf dass die für Zimmermanns Musik typischen Raumwirkungen entstehen, hinter der Bühne fort. Keine Frage: Allein die Intensität des Spektakulären macht diese Produktion zum Höhepunkt der Opernsaison 2018/19 – was auch immer man im einzelnen von ihr halten mag.
Umsetzung einer Vision von totalem Theater
Spektakulär ist bereits der Grundeinfall der Regie (Inszenierung: Carlus Padrissa; Bühne: Roland Olbeter). Was am Offenbachplatz nie möglich wäre – hier, unter den experimentellen Bedingungen des Staatenhauses, ist es dies, und es gelingt auch: die Umsetzung einer Vision von totalem Theater. Das Orchester und das Publikum sitzen in der Mitte, die stegartige Bühne läuft im Oval, sie gleichsam umzingelnd, erhöht um sie herum. Solchermaßen lässt sich verwirklichen, was dem Komponisten vorgeschwebt haben mag und was die Guckkastenbühne nicht hergibt: die simultane Darstellung mehrerer getrennter und chronologisch von Haus aus sequenzierter Handlungsstränge. Gleich die Briefszene des ersten Aktes ist ein Beispiel dafür.
Stückbrief
Musikalische Leitung: François-Xavier Roth
Inszenierung: Carlus Padrissa
Bühne: Roland Olbeter
Darsteller: Frank van Hove, Emily Hindrichs, Judith Thielsen, Kismara Pessatti, Nikolay Borchev, Dalia Schaechter, Sharon Kempton, Alexander Kaimbacher, Alexander Fedin, Martin Koch, Miroslav Stricevic, John Heuzenroeder, Oliver Zwarg, Miljenko Turk, Wolfgang Stefan Schwaiger u.a.
Dauer: knapp drei Stunden (inkl. Pause)
Weitere Aufführungen: 3., 11., 13., 17., 20. Mai
Wer die damit geforderte Teilung der Publikumsaufmerksamkeit tadelt, hat Zimmermanns gedanklichen Ansatz, seine spezifische Umsetzung des „Parsifal“-Satzes „Zum Raum wird hier die Zeit“ nicht verstanden. Was sonst stören und irritieren müsste – hier hat es System. Und die Zuschauer können immerhin auf Drehstühlen, die zwar unbequem sind, aber Wendehalsdrehungen erübrigen, dem mehrdimensionalen Geschehen folgen. Aber was heißt hier „folgen“? Im Unterschied zur „normalen“ Opernaufführung sind sie immer schon mittendrin, sitzen in jenem Zentrum einer Kugel, wo die von der Peripherie ausgehenden dramaturgischen und dramatischen Kraftlinien einander überschneiden – und zwar mit unwiderstehlicher Gewalt.
Großartige musikalische Leistungen
Jenseits dieses Konzepts und etwas beliebiger Video-Illuminationen macht Padrissa dann nicht mehr allzu viel. Stark stellt er den Gender-Aspekt heraus, richtet den Scheinwerfer auf die Unterdrückung und sexuelle Ausbeutung der Frauen durch die Soldaten, sprich: Männer. Das steckt zweifellos drin in Zimmermanns Quelle, der Komödie des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, die am Schluss zur Lösung der konfliktträchtigen Situation der ehelosen Offiziere den absonderlichen Vorschlag einer „Pflanzschule von Soldatenweibern“ macht.
In der Oper tritt dieses Motiv indes zurück – der Ruin des Bürgermädchens Marie steht hier nur symbolisch ein für die insgesamt miserable Verfasstheit der Welt. Insofern betreibt Padrissa in seiner Inszenierung sogar eine problematische Themen-Engführung. Am Schluss sieht man die ganze miese Soldatenbagage rund um das Bühnenoval am Galgen baumeln – fast wie in der Callot-Radierung „Der Galgenbaum“.
Ist das die Rache der erniedrigten Frauen oder die ausgleichende historische Gerechtigkeit auf lange Sicht? Wäre es so, bräche hier ein Optimismus durch, den sich Zimmermanns Werk mit Gründen versagt. Immerhin wird dankenswerterweise verzichtet auf die Anmutung einer Atombombenexplosion, die noch in der Szenenanweisung für die Uraufführung steht.
Großartig, eindrucksvoll, schmerzend in ihrer unverstellten Härte und Plastizität sind die musikalischen Leistungen. Die horrend schweren Partien mit ihren grotesken Intervallsprüngen werden von der Solistenschar durch die Bank glänzend gemeistert. Schwer zu sagen, wem da die Palme gebührt: neben Emily Hindrichs als Marie, die souverän ihre Entwicklung von der gackernden Naiven zur Straßendirne hinlegt, vielleicht Sharon Kempton in der Rolle der Gräfin de la Roche.
Frisch und modern wie zur Zeit ihrer Entstehung
Sie mobilisiert in herausragender Weise jene Gestaltungskraft, die über die pure Bewältigung der Noten eben deutlich hinausgeht. Aber auch der Bariton Nikolay Borchev als Stolzius und der Tenor Martin Koch als Verführer Desportes kommen mit nicht nachlassender Kraft und Intensität herüber. Die übrigen Solisten seien hier pauschal gelobt – es sind einfach zu viele.
Nicht nur in technischer Hinsicht (etwa in der Koordination der Klangfiguren) überzeugend agiert auch das Gürzenich-Orchester unter François-Xavier Roth. Zimmermanns Klanglichkeit wird hier mit bemerkenswerter Glut und Leuchtkraft lebendig. Es gibt luzide Kammermusikstrecken, aber auch immer wieder gewalttätige Attacken auf die Ohren. Nein, für besänftigende Weichzeichnung ist Roth nicht zu haben – was sich allemal auch dem Hörer mitteilt, der den komplexen Verwandlungen der Allintervall-Reihen nicht zu folgen vermag.
Das macht: Zimmermanns Oper ist in Köln so frisch und modern wie zur Zeit ihrer Entstehung – ähnlich wie Bergs thematisch benachbarter „Wozzeck“. Lebhafter Beifall des Premierenpublikums.