Das Ensemble Resonanz spielte in Köln Haydns „Sieben Worte“, Birgit Minichmayr las aus Herrndorfs „Arbeit und Struktur“. Dem Leiden und Sterben Christi wird die Passion des deutschen Autors und Malers gegenübergestellt.
Kölner PhilharmonieZwei Passionen, die einander bespiegeln
Die eine Passion dauerte einen Tag – von Gründonnerstagnacht bis Karfreitagmittag –, die andere zog sich über mehr als drei Jahre hin. Die erste musste Jesus Christus erdulden, die zweite Wolfgang Herrndorf. Jesus starb an den Qualen der Kreuzigung, der Maler und Romanautor Herrndorf („Tschick“) setzte seinem Leben im August 2013 ein Ende, weil er dem eigenen Sterben infolge der Erkrankung an einem bösartigen Hirntumor nicht weiter zusehen wollte.
Ist es blasphemisch, beide Passionen zueinander in Beziehung zu setzen – wie das Ensemble Resonanz und die österreichische Schauspielerin Birgit Minichmayr es seit einigen Jahren tun und es jetzt zu Beginn der Karwoche in der Kölner Philharmonie fortsetzten?
Österliches Programm in der Kölner Philharmonie
Werden Haydns „Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuz“ zumal in der Orchesterfassung eh selten aufgeführt, so sichert ihre Verschränkung mit der Lesung von Auszügen aus Herrndorfs seine Krankheit begleitendem und posthum als literarisches Ganzes veröffentlichtem Tagebuch „Arbeit und Struktur“ dem Unternehmen der diesmal von ihrem Leiter Riccardo Minasi dirigierten Formation eine definitive Alleinstellung.
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Die christliche Passion und Herrndorfs Leidensweg haben auf Anhieb nicht viel gemeinsam. Wo Haydn tief im christlichen Glauben verwurzelt ist, da weist der Berliner Autor hohnvoll-aggressiv alle metaphysischen Tröstungen ab und verlangt, Priester von seiner Beerdigung zur Not mit Waffengewalt fernzuhalten. Das gehört zu Herrndorfs Strategie der geschäftsmäßigen Larmoyanzvermeidung: Sein „Schicksal“ ist das Ergebnis einer „biochemischen Lotterie“, und das Wissen um den nahen Tod ermöglicht sogar ungewöhnliche Glückintensitäten.
Die Schauspielerin Birgit Minichmayr las die Texte von Herrndorf
Indes taucht „Arbeit und Struktur“ auch die Christusworte am Kreuz kontrastiv in ein ungewohntes Licht: Sie werden zu den letzten Lebensäußerungen einer sehr diesseitig gemarterten Kreatur, die darob an ihrem Schöpfer verzweifelt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Da ergibt sich sogar – das hat mit Blasphemie nichts zu tun – die Gelegenheit, mit Ernst Bloch über „Atheismus im Christentum“ nachzudenken.
Minichmayr, dem Kinopublikum präsent unter anderem durch ihre Darstellung von Romy Schneiders Jugendfreundin Hilde Fritsch in „Drei Tage in Quiberon“ (2018) – las die Herrndorf-Passagen aufwandarm-schnörkellos, mit jener berührenden Pathoslosigkeit, die den Text seinerseits auszeichnet.
Haydns Adagios sind zwar nicht sentimental, aber doch mit barocken Pathosformeln ausgestattet. Minasi und das Ensemble Resonanz warteten mit schroff-schmerzvollen Akzenten auf, ließen es mit eindringlich-sprachnahem Gestus stocken und fließen, ohne die Musik opernhaft zu veräußerlichen. Ein Passionskonzert, das man so schnell nicht vergisst.