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Erklärung in KölnWarum Marcel Beyer nichts mit der „Emma“ zu tun haben will

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Marcel Beyer im Literaturhaus Köln  

Köln – Bevor er im Literaturhaus Köln Rede und Antwort steht, will Marcel Beyer etwas klarstellen: Er habe, erzählt der Autor, eine Aufforderung von der Petitionswebseite change.org erhalten, den Offenen Brief gegen Waffenlieferungen an die Ukraine weiterhin zu unterstützen, den Alice Schwarzer in der „Emma“ veröffentlicht hatte.

Allerdings hat er den Brief nicht unterzeichnet und hätte das, so Beyer, auch niemals getan. Mehrere Nachfragen in der „Emma“-Redaktion – wie das denn sein könne und ob er etwa noch auf der nicht einsehbaren Liste prominenter Unterzeichner stehe – brachten nur „schmallippige“ Antworten. Weshalb ihm jetzt, schließt der Autor, nur übrig bleibe, sich bei jedem öffentlichen Auftritt von dem Offenen Brief zu distanzieren.

Anschließend spricht der Büchner-Preisträger auf dem Podium mit den beiden Literaturwissenschaftlern Christoph Hamann und Anja Lemke über die „Wirklichkeit des Möglichen“. Lemke ist Direktorin des Erich Auerbach Institute for Advanced Studies, der neu gegründeten geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungseinrichtung an der Kölner Universität. Beyer und Hamann erkunden gerade als Fellows am Institut die Überschneidungen von literarischem und wissenschaftlichem Schreiben und der Autor fragt den Forscher neckisch, warum literaturwissenschaftliche Texte einer immergleichen Dramaturgie folgten: „Gibt es Vorbehalte gegen Spannung?“

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Literarischer Ghostbuster

Dazu sollte Beyer aus seinem aktuellen Gedichtband „Dämonenräumdienst“ lesen und das hätte man auch gerne gehört, wie er sich als literarischer Ghostbuster betätigt: „Schreib es auf“ zitiert der Programmflyer eines seiner Gedichte aus dem Band, „sonst musst Du es/ am Ende noch erleben“.

Nun hat aber nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, befindet der Suhrkamp-Autor, eine geschichtliche Zäsur stattgefunden. Und dafür hat er eine passende Waffe, wenn die martialische Metapher erlaubt ist, im Arsenal: Vor zehn Jahren veröffentlichte er einen Band kurzer Prosastücke namens „Putins Briefkasten“, untertitelt mit „Acht Recherchen“, als Hommage an den französischen Kollegen Proust (er kommt im Buch selbstredend vor), mit dem er sich den Vornamen teilt, und auch ein wenig aus Verlegenheit, weil es sich weder um Essays, noch um Erzählungen oder gar Berichte handelt, höchstens um Fakten, die der Schreibende um Ausgedachtes ergänzt hat, das oft plausibler erscheint. Obwohl er selbst weniger recherchiere, sagt Beyer, weil das ja gezielt von statten gehe, sondern eher im Material stöbere.

Auf der Suche nach Putins Briefkasten

Im Titelstück, aus dem Beyer zum Auftakt liest, fährt der Erzähler aus einer ihm „selber nicht ganz klaren Anwandlung“ an den Stadtrand von Dresden, auf der Suche nach einem verlorenen, durch ein neueres, hässlicheres Modell mit abgerundeten Ecken ersetzten und schlussendlich abgebauten Briefkasten in der Radeberger Straße 101, eben dort, wo Wladimir Putin in seiner Dresdener Zeit gewohnt hat. Der russische Potentat hielt sich von 1985 bis 1990 im Auftrag des KGB in der sächsischen Stadt auf. Marcel Beyer, in Baden-Württemberg geboren, aber ein Kind des Rheinlandes, war 1996 nach Dresden gezogen, neugierig auf den Osten, den man jetzt so einfach bewohnen und bereisen konnte.

In seinem Text imaginiert Beyer den KGB-Mann und seine damalige Frau auf einen Spaziergang durch den Dresdener Zoo, platziert sie vor dem Löwengehege, 120 Jahre nachdem Dostojewski dort mit seiner Gattin stand, und, so beschreibt es der Philosoph Hans Blumenberg, den Blick des Löwen gesucht und ihm standgehalten hat.

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„Niemals habe ich Wladimir Putin im Mantel gesehen“, sagt Beyer im Buch, ein Verweis auf Gogols berühmte Novelle „Der Mantel“, in der ein unbedeutender Kopist durch den Kauf eines Mantels zu einer bedeutsamen Person aufsteigt. Davon erzählt er in Köln nicht, berichtet stattdessen, dass ihn unter anderem die Frage umtreibe, warum sich bloß die Männer von der AfD so anziehen, wie sie sich anziehen.

Der erste Eindruck, der flüchtige Blick kann bei Beyer zu tieflotenden Erkenntnissen führen. Auch das Nicht-Verstehen: Gerade wenn er sich umgeben von Menschen wiederfindet, die sich in einer Sprache unterhalten, die er nicht im Ansatz verstehe, könne er besonders gut Notizen schreiben. Zum Schluss trägt Beyer ein Gedicht aus dem Band „Graphit“ vor, die Momentaufnahme einer Nacht am Ufer der Sankt Petersburger Newa, mit einem Präsidenten, der über einer Karte fluchend die Stelle sucht, an der die Kursk untergegangen ist. Der Titel des Gedichts lautet „Endreimstimmung“.