An der Oper Köln feierte ein Doppelprogramm aus Alexander Zemlinskys „Der Zwerg“ und Igor Strawinskys „Petruschka“ Premiere. Es war ein bonbonbunter Abend über die Ausgrenzungsmechanismen einer hedonistischen Gesellschaft, die Musik ist für den tragischen Stoff beinahe zu schön.
Oper KölnEine Spaßgesellschaft, die über Leichen geht
Erst Oper, dann Ballett – an einem einzigen Abend. Diese Kombination unterschiedlicher Kunstformen ist ungewöhnlich, kann sich aber im Fall der jüngsten Kölner Opernproduktion auf einsichtige Gründe berufen. Der erste ist ein historischer: Vor genau hundert Jahren brachte der damalige Kölner Opern-GMD Otto Klemperer die nämliche Werkfolge auf die Bühne: Zemlinskys Einakter „Der Zwerg“ und Strawinskys Ballett „Petruschka“. Und unter James Conlon wurde Köln in den 90er Jahren ein Zentrum der seinerzeit virulenten internationalen Zemlinsky-Renaissance. Das Publikum im Saal 2 des Staatenhauses wird mit einer filmischen Bilderschau im Bühnenhintergrund empfangen, die diese Zusammenhänge darstellt, den Bogen vom Einst ins Heute spannt.
Das Publikum wird für das tragische Ende in Mithaftung genommen
Ein weiterer Grund ist inhaltlicher Art: Zemlinsky wie Strawinsky stellen in den Fokus der Handlung jeweils das Schicksal eines Außenseiters, der an der Ablehnung seiner sozialen Umwelt zerbricht. Diese Klammer funktioniert hinlänglich, wenngleich bei näherem Hinsehen die Tragödie des Zwerges, der um seine Hässlichkeit nicht weiß, anders motiviert wird als die der zum Leben erweckten Jahrmarktsmarionette, die das Opfer einer archetypischen Dreieckskonstellation wird.
Die Kölner Produktion forciert die vorausgesetzte motivische Nahbeziehung nicht nur dadurch, dass hier wie dort das Gürzenich-Orchester spielt – unter dem maltesisch-niederländischen Dirigenten Lawrence Renes, der hier sein gelungenes Debüt an der Kölner Oper gab. Vielmehr wird der Abend durch ein im wesentlichen identisches Bühnenbild (Pia Dederichs, Lena Schmid) integriert: Da gibt es vor allem einen pinkfarbenen Vorhang mit Portal, der sich über die Rückseite der Bühne zieht – hinter dem Orchester, das sich für eine „Rettungsgasse“ des ab- und zufließenden Personals zu teilen hat.
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Es wird so zum Mitspieler der Bühnenaktion – wie das beim „Zwerg“ darüber hinaus auch das Publikum ist. Das sitzt dort nicht nur wie üblich auf den Rängen, sondern auch an Rundtischen auf der Bühne. Und es markiert den Zuschauersaum an dem zentralen, in die Tiefe des Raums führenden Laufsteg, auf dem sich die Aktion wesentlich begibt. Ein illusionsbrechender Spiel-im-Spiel-Effekt, wie ihn bereits Shakespeare, die romantischen Komödie und Pirandello perfektioniert haben, dem allerdings in Paul-Georg Dittrichs Inszenierung ein spezifischer Sinn zuwächst. Das Publikum wird, indem es Teil jener hedonistisch-grausamen Hofgesellschaft wird, die den Zwerg in die Katastrophe treibt, für diese fiktiv in Mithaftung genommen.
Das mag nicht nach jedermanns Geschmack sein, indes ist die intendierte Aussage plausibel genug: Ausgrenzung ist ein jederzeitliches Phänomen, das sich aus der Sphäre des spanischen Hofes im 17. Jahrhundert (die Oper geht auf Oscar Wildes Erzählung „Der Geburtstag der Infantin“ zurück, die ihrerseits durch Velasquez’ berühmte „Meninas“ inspiriert wurde) problemlos ins Heute übertragen lässt. Dieses Heute definiert sich im Kölner „Zwerg“ als popfarbige Spaßtruppe kreischender, auf Smartphone und Twitter fixierter und mit der Maskenschönheit der Barbiepuppen geschlagener Girlies. Der Zwerg fällt da durch seine schwarze Kleidung sogleich heraus.
In der Titelrolle war Burkhard Fritz anscheinend indisponiert
Das ist nachdrücklich und eindringlich genug, man bleibt gebannt dabei, auch weil sich das Gefühl aufdrängt, dass hier kein unverbindliches Opernvergnügen stattfindet, sondern etwas, das uns allesamt angeht oder doch angehen müsste. Dies ist freilich auch das Verdienst von Zemlinskys großartiger und für diesen Gegenstand fast zu schöner Musik, die das Orchester unter Renes’ Anleitung in sattem instrumentalem Belcanto und feiner Herausstellung der einzelnen Farben und ihrer Konstellationen strömen und fluten lässt. Dass man gerade angesichts des „falschen“ Liebesduetts von Zwerg und Prinzessin an „Tristan und Isolde“ erinnert wird – es ist alles andere als ein Zufall.
Zumal Kathrin Zukowski als kaugummikauende Prinzessinnengöre und Claudia Rohrbach als Zofe und einzig Mitleidvolle in diesem Ensemble der Inhumanität überzeugen darstellerisch wie stimmlich durch raumfüllende Präsenz und exquisiten Wohlklang, desgleichen Christoph Seidl als fülliger Haushofmeisterbass. Rundum überzeugend auch das Begleitpersonal der obszönen Geburtstagsfeier. Enttäuschend ob gefährdeter Phrasierung, mangelhaften Registerausgleichs und enger, unfreier Höhe agierte hingegen Burkhard Fritz in der Titelpartie. Falls er – es ist fast zu vermuten – indisponiert war: Warum tat man es nicht vor der Aufführung kund?
Großartig gerade im Zusammenspiel von Musik und Tanzbühne geriet auch der zweite kürzere, der „Petruschka“-Teil der Produktion, für den sich Opernintendant Hein Mulders der Unterstützung von Schauspiel Köln versichert hatte: Richard Siegal himself hatte, damit immerhin in die Fußstapfen der Pariser Uraufführungs-Legende Sergej Djagilew tretend, für das Ballet of Difference die außerordentlich kraftvolle und sinnfällige Choreografie erstellt. Wie ein Tanzmeister kongenial die Impulse des Orchesters aufnimmt – hier war es wieder und wieder zu verfolgen.
Nun reicht das Kernpersonal aus Petruschka (Margarida Isabel de Abreu Neto), Ballerina (Long Zou), dem hier Strawinskys Mohr ersetzenden Soldat (Nicolás Martinéz) und Magier (Evan Supple) nicht für die erstrebte szenische Fülle aus, es wurde erweitert durch acht „Transhumanist*Innen“, die durch Verdopplungen die Identität der Figuren und auch (was das Sujet nicht unbedingt aufdrängt) ihre sexuelle Codierung einer teils etwas verwirrenden Verflüssigung anheimstellten. Dem begeisterten Beifall des Premierenpublikums tat das keinen Abbruch.
Musikalische Leitung: Lawrence Renes; Inszenierung: Paul-Georg Dittrich; Choreografie: Richard Siegal; Bühne: Pia Dederichs, Lena Schmid; Darsteller: Kathrin Zukowski, Claudia Rohrbach, Christoph Seidl, Burkhard Fritz („Der Zwerg“); Margarida Isabel de Abreu Neto, Long Zou, Nicolás Martinéz, Evan Supple, Pier-Loup Lacour („Petruschka“); Dauer: knapp drei Stunden inklusive Pause. Weitere Aufführungen: 27., 30. November, 4., 6., 8. 10. Dezember