Der türkische Pianist Fazil Say wird nicht nur für sein Klavierspiel und sein kompositorisches Werk geschätzt. Bei vielen seiner Landsleute ist er durch sein mutiges Eintreten für eine liberale, weltoffene und säkulare Türkei zur Identifikationsfigur geworden.
Pianist, Komponist und AktivistFazil Say in der ausverkauften Kölner Philharmonie
Ausverkauft ist die Kölner Philharmonie bei einem klassischen Klavierabend nur sehr selten. Daniel Barenboim hat das 2020 geschafft, Igor Levit und Grigori Sokolov gelang es danach immerhin annähernd. Sonst noch jemand? Man muss dazu wohl über das rein Künstlerische hinaus ein persönliches Alleinstellungsmerkmal zu bieten haben, eine Weltmarke sein wie Barenboim, so laut auftreten wie Levit - oder so dezidiert leise wie Sokolov.
Auch Fazıl Say bescherte der Philharmonie am Sonntag ein volles Haus. Der türkische Pianist wird gleichfalls nicht nur für sein Klavierspiel und sein mittlerweile stattlich angewachsenes kompositorisches Werk geschätzt. Bei vielen seiner Landsleute ist er durch sein mutiges Eintreten für eine liberale, weltoffene und säkulare Türkei zur Identifikationsfigur geworden. 2013 wurde er für seine islamkritischen Äußerungen in Istanbul sogar zu einer (später wieder aufgehobenen) Bewährungsstrafe verurteilt.
Allgemeine Applauswut
Wie gesagt, die Bude war voll - und das machte sich leider auch deutlich bemerkbar. Es wurde lautstark rumort und ungedämpft gehustet; es wurde getuschelt und teils auch offensiv diskutiert. Handys klingelten unentwegt, und der allgemeinen Applauswut konnte der Pianist nur entkommen, indem er jedes neue Stück unmittelbar an das vorangegangene klebte - so auch die drei Zugaben aus eigener Produktion.
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Anders als etwa bei Igor Levit bilden Kunst- und Bürgersinn bei Fazil Say keinen scharf kalkulierten wechselseitigen Wirkungsmechanismus; bei ihm strömt beides aus einem offenherzigen, empathischen Impuls heraus. Sein Kölner Programm zeugte wieder einmal von bemerkenswerter Unbekümmertheit: Er scheute sich nicht, Claude Debussys populäres „Clair de lune“ aus dem Verbund der „Suite bergamasque“ zu lösen, was man zwar jugendlichen Klavier-Eleven zubilligen würde, aber doch kaum einem professionellen Pianisten. Auf zwei hochdelikate Sätze aus Maurice Ravels „Miroirs“ ließ er drei seicht-sentimentale „Gnossiennes“ von Erik Satie folgen - das wirkte geradezu wie eine kalte Dusche.
Die erste, französische Hälfte des Abends leiteten vier Debussy-Préludes ein, die durch extreme Gegensätze in der Lautstärke und auffällige Rückungen im Tempo gekennzeichnet waren. Das „Mädchen mit dem Flachshaar“ („La fille aux cheveux de lin“) wirkte so nicht wie eine artige bretonische Landschönheit, sondern eher wie ein urbaner Teenager mit ADHS. Die nervöse Sprunghaftigkeit der Gestaltung ließ die Stücke wie improvisiert erscheinen - das kann man natürlich als Qualität empfinden, es ebnete aber zugleich viele Feinheiten der Detailzeichnung ein.
Deutlich näher an der interpretatorischen Konvention lag Say mit Beethovens „Sturm“-Sonate op. 31/2: Hier ließ er sich auch auf die weiträumig angelegten formalen Strukturen ein, auf durchgehende Muster in Rhythmus und Figuration. Nicht alles war konsequent geformt - in den Rahmensätzen durchkreuzte zuweilen eine nachlässige Pedalisierung der Artikulation der Finger. Ausgesprochen anregend indes war Says Darstellung des langsamen Mittelsatzes, in dem sich zwischen starker Linienspannung und geradezu perkussiv trockenen Akzenten der Nebenstimmen eine ganz eigenwillige Rhetorik aufbaute.
Letzten Endes lief alles auf das Schlussstück zu, Says während des Corona-Lockdowns 2021 komponierte „New Life Sonata“: Wie in seinen früheren Werken mischt er auch hier orientalische Folklore mit okzidentaler Klaviertradition, Jazz und Pop, aber das Stück ist deutlich konkreter, knapper gefasst und in der Satzweise ökonomischer als seine Vorgänger. Im Saal sorgte vor allem das furiose Finale mit seinen aufgepeitschten Fünf- und Siebenachtel-Patterns für Begeisterung.