Der belgische Chorerograf Sidi Larbi Cherkaoui zeigte seine Arbeit „Nomad“ im Deutzer Staatenhaus.
Tanzgastspiel in der Oper KölnWie bewegt man sich im Extremklima?
Sidi Larbi Cherkaoui ist wohl der genialste Choreograf unserer Zeit, wenn es darum geht, sich in andere Kulturen einzufühlen, in ihre Tänze, ihre Körper. Der Künstler mit flämisch-marokkanischen Wurzeln hat schon die Bewegungsidiome von irischen Riverdancern und spanischen Flamencotänzerinnen adaptiert, und in seiner vielleicht berühmtesten Arbeit die von buddhistischen Shaolin-Mönchen.
2019 choreografierte er „Nomad“, inspiriert von der Lebensweise der Nomaden. Ein wenig beachtetes, eher schwaches Stück im Cherkaoui-Kosmos. Auch Tänzerinnen und Tänzer führen ja bekanntlich ein nomadisches Leben, ziehen von Engagement zu Engagement um den Globus, müssen Meister der Anpassung an die ‚klimatischen‘ Bedingungen ihrer Umgebung sein. Sidi Larbi Cherkaoui selbst hat zum Wechsel der Spielzeit Antwerpen als Ballettchef verlassen und ist nach Genf weitergezogen.
Doch zum Glück: Cherkaoui ist ein viel zu ‚weltlicher‘ Künstler, als dass er „Nomad“ einfach nur als selbstbespiegelnde Metapher für die Tänzerexistenz verstehen würde. In den Videoprojektionen von Paul Van Caudenberg jagen Wolken über eine von Trockenheit aufgebrochene rissige Erde - ein Bild, dessen Bedrohlichkeit auch uns Europäern nach mehreren Hitzesommern längst bewusst sind. Hier sind wir nun aber an dem Ort, der ein Synonym für Dürre, Ödnis und Leblosigkeit ist: die Wüste. Ein Ort auch, wo alles auf das Elementarste reduziert wird.
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Cherkaoui verzichtet auf jeden Schnickschnack
Entsprechend verzichtet Sidi Larbi Cherkaoui in der Choreografie für seine neunköpfige Kompanie „Eastman“ auf jeden tänzerischen Schnickschnack. Keine virtuosen Stunts, keine atemberaubenden Moves. Die Kraft und Artistik des Urban Dance, die Cherkaouis Choreografien immer grundiert, sind da, aber so, als wären sie wie die Tänzer in viele weiche Stoffschichten gepackt, ganz weich, konturlos, fließend. Dem Körper wird hier nichts aufgezwungen, der Körper selbst diktiert vielmehr die Bewegungen wie auch ein gleichmäßiges Tempo, das nie in die Extreme geht.
Das ist konzeptuell zwar stimmig und klug gedacht. Denn wer in einem Extremklima überlebt, der folgt seinem Körper sicher anders als Europäer in ihrer komfortablen gemäßigten Wetterzone. Auf Dauer ist es aber auch ein wenig fad. Aber es wäre natürlich kein Cherkaoui-Stück, wenn es nicht wenigstens eine unvergessliche, einzigartige Sequenz darin gäbe. In „Nomad“ ist das ein Tanz auf meterhohen Stelzen. Drei Männer imitieren so die Bewegungen von Kamelen. Die Frauen reiten auf ihren Rücken und im schattigen Bühnenlicht gelingt diese Tier-Mimikry verblüffend gut. Da sieht man wieder den großen Bewegungs-Kenner Cherkaoui, diese Hochbegabung, die offenbar ein Extra-Hirnareal für die Erfassung von Muskelabläufen, Körperwinkeln und -linien besitzt.
Tanzen unterm Atompilz
Am Ende dieser melancholischen Hommage an das nomadische Leben gleißt helles Licht in der Videoprojektion auf. Aber es ist nicht die Sonne, die die Menschen zu schwarzen Schatten verkohlen lässt. Es ist ein Atompilz. Die Wüste als Schauplatz für Nukleartests. Auch dieser Tod hat sich in die lebensfeindliche Landschaft eingeschrieben, auch dieses wenig beachtete Kapitel gehört zur Geschichte der Nomaden, der Tuareg etwa als kaum entschädigte Opfer der französischen Atomtests in Algerien. Und es ist eine von Cherkaouis großen Stärken, das Politische in seinen Stücken nie zu sehr zu strapazieren - und doch nie zu vergessen.
Nicole Strecker
Nächste Vorstellung bei Tanz Köln: Trajal Harrell „The Köln Concert“ am 6. und 7.12.2022