Marius Müller-Westernhagen spielte seine „75 live“-Show in der Lanxess-Arena – und rockte wie mit 25.
„Jesus, ich habe euch vermisst!“Westernhagen in der Lanxess-Arena: Mit 75 noch lange nicht fertig
Die Gitarre jault, das Schlagzeug stampft und Marius Müller-Westernhagen fordert mit seiner allertiefsten Stimme: „Folge mir, ich bin dein Alphatier“. Das ist mal eine Ansage für den Opener eines Konzerts. Zu dem Bluesrock-Kracher könnte man sich auch gut eine Runde Headbanging vorstellen. Doch stattdessen steht ein distinguierter älterer Herr im weißen Anzug auf der Bühne: Das Alphatier, einer der erfolgreichsten deutschen Künstler, Gold, Platin, Nummer-Eins-Hit-Rekorde, volle Stadien – das ganze Programm.
Der Song stammt allerdings von einem 2014er-Album, da war das Rampenlicht nicht mehr ganz so grell wie in den 80er und 90ern und die Verkaufszahlen nur noch so mittel. Aber, das betont Westernhagen immer wieder: Er wollte es gar nicht anders. Der Ausverkauf, der Kommerz, die Entfremdung: „Auf meinem damaligen Höhepunkt war ich am unglücklichsten. Ich wurde depressiv und war vollkommen paranoid. Ich wollte leben und mich nicht leben lassen.“ Westernhagen verabschiedete sich von den Stadien.
Jetzt steht er also in der gut gefüllten Lanxess Arena – was für manche die Krönung ihrer Karriere ist, ist für Marius Müller-Westernhagen Downsizing. „Das Leben ist high, Das Leben ist low, Gebrochenes Herz, Go on must the show“ singt er – und man muss sich fragen, wie ernst sich dieses Alphatier eigentlich selber nimmt. Das ist ja quasi Dada – Westernhagen hat übrigens auch ein Faible für Trio.
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Die volle Lanxess-Arena ist für Westernhagen Downsizing
„75 live“ heißt die Show, eine Rekapitulation seiner Karriere, die gleichzeitig ein Stück deutsche Geschichte erzählt. Dieser Mann ist tatsächlich 75 Jahre alt. Und anstatt irgendwo am Pool zu liegen, steht er auf der Bühne. Warum? Geld braucht er wahrscheinlich nicht so dringend, Marius Müller-Westernhagen gilt als beängstigend diszipliniert für einen Popstar. Vielleicht gibt der zweite Song darauf eine Antwort: „Ich will raus“, eine Art-Pandemie-Hymne.
Westernhagen wollte in der Zeit eigentlich in ausgesuchten Konzertsälen sein Album „Pfefferminz-Experiment“ präsentieren – eine Neueinspielung seines Kult-Albums „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ von 1978. Karohemd, Cowboy-Hut und viel Blues und Country. Daraus wurde dann wegen Corona nichts, aber jetzt darf er endlich wieder „raus“ auf die Bühne.
Und spielt den Pfefferminz-Prinzen zum Glück straight geradeaus, ohne Experimente bei denen Cowboyhüte im Spiel sind. „Pipi ist kein Name...“ – wer zwischen 70 und 40 ist und diese Songzeile nicht vervollständigen kann, hat die 80er und 90er im Delirium oder auf einer einsamen Insel ohne Radio verbracht.
Westernhagen lässt heute beim Pfefferminz-Prinzen das N*-Wort weg
Immerhin hatte Westernhagen inzwischen endlich ein Einsehen und lässt das N*-Wort weg. Und irgendwie ist es ja auch kein Wunder, dass die Leute beim Pfefferminz-Prinz so durchdrehen. Bei solchen simplen, druckvollen Rocknummern ist er einfach am besten. Und live funktionieren Songs wie „Fertig“ oder „Mit 18“ nochmal so gut. Alle, die nicht ohnehin schon stehen, hüpfen bei den ersten Takten in die Höhe. „In meiner Bude flipp’ ich aus“ knallt auch noch mit 75 und könnte heute sogar auch als Pandemie-Hymne durchgehen. Obwohl es 1980 so eine Art Arbeiter-Party-Song war.
Mit dem Arbeitermilieu hat Westernhagen immer kokettiert. Man kauft ihm die Feinripp-Unterhemden genauso ab wie den tadellos sitzenden Anzug. Den Rocker genauso wie den Schnulzen-Sänger und den Blues- und Country-Cowboy. Ein Chamäleon, ein singender Schauspieler eben.
Das Publikum geht bei allem mit
Das Publikum geht bei allem mit, holt die Feuerzeuge raus bei „Wieder hier“ von 1998 und springt von den Sitzen bei den ersten „Sexy“-Takten. Die unbekannteren neueren Songs werden freundlich aber deutlich weniger frenetisch beklatscht.
Westernhagen redet nur wenig, „Jesus, ich habe euch vermisst!“ ist das höchste der Gefühle. Das Duett „Ich brauche Luft um zu Atmen“ singt er mit seiner Frau Lindiwe Suttle und was soll man sagen... Bei den Balladen macht Marius Müller-Westernhagen vor nichts Halt, weder textlich noch musikalisch. „Weil ich dich liebe, immer mehr. Weil ich dich liebe, weil ich dich liebe. Zu lieben ist gar nicht so schwer“ heißt es in „Lass uns leben“ (1983) und man fragt sich, wie Marius Müller-Westernhagen eigentlich zu seinem Ruf als intellektueller Songtexter gekommen ist.
„Freiheit“ ist auch so ein Fall – eigentlich total totgespielt und von allen möglichen und unmöglichen Seiten vereinnahmt. Zum Schluss des Konzerts wird Westernhagen beinahe gesprächig und erzählt, dass er eigentlich gar keine Lust mehr hatte, das Stück zu spielen. Bravo! Aber dann sagt er, dass er es in diesen Zeiten (Ukraine-Krieg, Krieg in Nahost) wichtig findet.
Und obwohl er schon seinen klassischen Rausschmeißer „Johnnie Walker“ gespielt hat und alle die Feuerzeuge wieder eingepackt hatten, stimmt er also doch noch „Freiheit“ an. „Alle die von Freiheit träumen, sollen's Feiern nicht versäumen“ singt er und das Publikum weiß schon seit Jahrzehnten, was er gleich rufen wird: „So wie wir hier heute Abend!“. Und dann fliegt doch tatsächlich eine Friedenstaube über den Bildschirm. Go on must the show.