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Papier zu WirtschaftspolitikProvoziert Christian Lindner den Rauswurf aus der Ampel absichtlich?

Lesezeit 8 Minuten
21.10.2024, Brandenburg, Schönefeld: Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, kommt zu seinem Abflug in die USA auf dem militärischen Teil des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) an. (zu dpa: «Lindner will Unterkunftskosten-Pauschale für Bürgergeld-Haushalte») Foto: Soeren Stache/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, am 21. Oktober auf dem militärischen Teil des Flughafens Berlin Brandenburg (BER) . Lindner erzürnt seine Koalitionspartner.

Das Schicksal der Ampelkoalition hängt vor allem von Christian Lindner ab. Am Freitag erhöhte der FDP-Chef die Eskalationsstufe.

Fünf Männer schreiten da durch den lichten obersten Stock des Reichstagsgebäudes, dunkle Anzüge, weiße Hemden, ernste Mienen. Christian Lindner geht in der Mitte, ein kleines bisschen voraus. In einem Eckzimmer des Gebäudes haben sie vorher zusammengesessen, der FDP-Vorsitzende und Finanzminister und die Chefs mehrerer Wirtschaftsverbände, dazu noch der FDP-Fraktionsvorsitzende. Kaffee, Kekse, keine Mitarbeiter. Rot gemalte Wände und ein Türschild mit der Aufschrift „Clubraum“. Der Anschein von Gediegenheit also und zumindest ein bisschen Heimlichkeit.

Und nun sind sie fertig, wie bei einem Showdown schreiten sie in breiter Reihe auf die Kameras zu, der FDP-Chef und seine Gang, so wirkt das. Lindner lächelt ein wenig.

Vor einigen Wochen hat er einen „Herbst der Entscheidungen“ angekündigt. Vor ein paar Tagen hat er in einem ZDF-Interview Wirtschaftsminister Robert Habeck „konzeptionelle Hilflosigkeit“ vorgeworfen und dem Bundeskanzler unabgestimmte Vorschläge. „Wenn das, was das Land baucht, dringlicher wird und das, was politisch erreichbar ist, kleiner wird, dann müssen alle sich die Karten legen“, hat der 45-Jährige gesagt. Es klang nach einem Ende der Koalition, nicht zum ersten Mal. In dieser Woche folgte der offene Affront: Der Kanzler lud zum Industriegipfel im Kanzleramt, Lindner konterte mit seinem eigenen Gipfel.

Provoziert Lindner einen Rauswurf?

Lindners Parteivize Wolfgang Kubicki, der oft sehr zuspitzt, aber Lindners Ohr hat, hat vorhergesagt, die Koalition werde Weihnachten nicht erreichen. Die Umfragewerte der FDP sind miserabel, mit der Regierungsübernahme im Bund kam der Absturz. Die Lage sei volatil, heißt es in der Partei. In der SPD wird schon seit Monaten gemutmaßt, der Finanzminister versuche, den Kanzler zu einem Rauswurf zu provozieren. SPD-Chefin Saskia Esken bescheinigte ihm eine „Spielernatur“.

Demnächst muss der nächste Haushalt über die Bühne gehen, schon der letzte hat die Koalition an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Im Sommer eskalierte ein Streit über ein Gutachten zum Haushaltsentwurf, der sonst so beherrschte Olaf Scholz wies Lindner öffentlich zurecht.

Und was macht der FDP-Chef?

Er zuckt mit den Schultern, zumindest verbal. Spielt er mit dem Ende der Koalition? „Das tue ich nicht“, sagt er in der Pressekonferenz nach der Brandenburger Landtagswahl im September, in der er auch erklärt, dass es in der Politik auch Mut brauche. Und dass zum Mut gehöre, die „Grenzen des Möglichen“ zu erkennen.

Anfang dieser Woche, vor den beiden separaten Wirtschaftstreffen, sagt Lindner im TV-Sender ntv, die Politik könne nicht so bleiben. Ein FDP-Wahlkampfslogan von 2021 hallt da wieder: „Wie es ist, darf es nicht bleiben.“ Jetzt ergänzt er: „Wir brauchen eine ganz klare Richtungsentscheidung.“ Die Richtung von Grünen und SPD hält er für falsch. Aber er sagt auch: „Ich setze keine Ultimaten.“

So ist das oft mit Lindners Äußerungen. Sie klingen entschlossen, auch drohend – und passen zu allen möglichen Entscheidungen. Es lässt sich auf ihrer Grundlage eskalieren oder doch wieder einschwenken in die Koalition.

Bei den Koalitionspartnern heißt es, man halte alles für möglich.

In der FDP hört es sich so an: Lindner sei verantwortungsvoll. Er sehe das Land zuerst. Die FDP habe nun mal Prinzipien. Lindners Entscheidungsmodi zu kennen, das behauptet kaum jemand. Tiefe Enttäuschung über Olaf Scholz wird übermittelt, ihm gebe er die Schuld daran, dass die Bundesregierung ihren Haushalt mit Sondervermögen gespickt hatte, was dann vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte.

Scheitern, das passt nicht zur Erzählung, die Lindner von sich selber hat. Er hat mal eine Firma in den Sand gesetzt, aber das ist über 20 Jahre her.

Seit über zehn Jahren ist er nun Vorsitzender der FDP, so lange wie kein anderer vor ihm, selbst Hans-Dietrich Genscher hat Lindner gerade überholt. Er hat einen Jagdschein, einen Sportbootschein und einen Porsche-Oldtimer. Zu seiner zweiten Hochzeit auf Sylt kamen der Kanzler und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Die Grabenkämpfe der Partei haben sich beruhigt. Offene Debatten über den Kurs der Partei – also Lindners – gibt es kaum. Der frühere Innenminister Gerhart Baum, 92, mahnt am lautesten mehr inhaltliche Breite der Partei an.

Christian Lindner: Viel riskiert – mit Erfolg

Lindner hat zweimal politisch viel riskiert und damit Erfolg gehabt: 2011 trat er überraschend als FDP-Generalsekretär zurück und überließ den überforderten damaligen Parteichef Philipp Rösler sich selbst. Er wolle eine „neue Dynamik“ entfachen, erklärte Lindner damals. Zwei Jahre später flog die FDP aus dem Bundestag, Lindner übernahm die Partei, führte sie wieder in den Bundestag – und überraschte erneut: Mit dem Spruch „Es ist besser nicht zu regieren als schlecht zu regieren“ brach Lindner in einer kalten Novembernacht im Jahr 2017 die Sondierungen über eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen kurz vor dem erwarteten Durchbruch ab. Bei der nächsten, der jüngsten Bundestagswahl verbesserte die FDP ihr Ergebnis.

Davon allerdings ist die FDP nun weit entfernt. Bei den Landtagswahlen folgte Niederlage auf Niederlage. Es scheint fraglich, ob die Partei nach der nächsten Wahl erneut in den Bundestag kommt.

Wer ist schuld? Die Koalition, findet man bei den Liberalen. Die SPD fordere immer wieder eine Änderung der Schuldenbremse, obwohl sie wisse, dass das mit der FDP nicht zu machen sei. Die Grünen bezichtigt man mit einiger Polemik der Liebe zu Vorschriften, Verboten und Moral. „Unsere Aufgabe ist nicht, um jeden Preis, koste es, was es wolle, Klimaschutzziele zu erfüllen“, sagt Lindner im September auf einem seiner Bürgerforen. Man müsse Freiheit und wirtschaftlichen Fortschritt mit Klimaschutz verbinden, statt „Askese und Verzicht“. Er spricht auch gerne darüber, dass beim Bürgergeld gekürzt werden müsse, da ist das Stichwort nicht Verzicht, sondern Leistung.

Sein Parteivize Kubicki bescheinigt Wirtschaftsminister Habeck Attitüden. Der energiepolitische Sprecher der Fraktion, Michael Kruse, denkt sich fast wöchentlich neue Beschimpfungen für Habeck aus, „Raupe Nimmersatt“ gehört da noch zu den zärtlicheren. Lindner lässt sie gewähren, nur bei einem Putin-Vergleich hat er Kubicki mal zurückgepfiffen.

Die Forderung einiger Kreispolitiker, aus der Koalition auszutreten, war ihm – zumindest vor einem Jahr – dann doch zu viel: Bei einem Mitgliedervotum warb die Parteispitze für den Verbleib. Auf dem folgenden Dreikönigstreffen der FDP forderte der FDP-Chef mehr Konstruktivität und weniger Schlechtreden des Landes. Wenige Monate später, nach dem Scheitern bei der Berlin-Wahl, ließ er seinen Generalsekretär Bijan Djir-Sarai jedoch die Botschaft verbreiten, man müsse schauen, ob noch Gemeinsamkeiten zu finden seien in der Koalition. Lindner sagt bei einem seiner Bürgerforen, es bekümmere ihn, „dass legitimer Diskurs als pathologisch betrachtet wird“. Offene Auseinandersetzung sei schließlich eine Frage der Transparenz.

Eines hat Lindner auf jeden Fall erreicht: Die FDP ist im Gespräch

Die mangelnde Unabhängigkeit seiner Partei hat er als Grund dafür ausgemacht, dass die FDP 2013 nach vier Jahren Regierung unter Angela Merkel aus dem Bundestag flog. Man habe „sich selbst kleingemacht“, schreibt er in seinem Buch „Schattenjahre“, das 2017 zum Wiedereinzug in den Bundestag erschien. Zur Wahrheit gehört, dass die FDP mit Zerstrittenheit, wüsten Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner CSU und als Klientelpolitik wahrgenommenen Steuererleichterungen für Hotels („Mövenpick-Steuer“) Minuspunkte sammelte.

Kleinmachen soll es also nicht mehr geben. Noch mal aus dem Bundestag fliegen auch nicht, es ist ja unklar, was von der FDP bleiben würde in einer Zeit, in der die Parteienkonkurrenz so groß ist. Die Hamburg-Wahl im März ist die nächste Etappe, die FDP rechnet sich dort gute Chancen aus.

Darauf richte sich der Fokus, sagt ein Spitzenpolitiker der FDP. Lindner, der lächelnd-höfliche Verbindlichkeit so gut mischen kann mit schneidender Schärfe, findet, es seien die Koalitionspartner, die sich inhaltlich bewegen müssten.

Wenn die Grenze der Glaubwürdigkeit überschritten sei, sei es „besser von Bord zu gehen“, das hat Lindner in seinem Buch auch geschrieben. Schuldenbremse, niedrige Steuern, das sind seine Glaubwürdigkeitsthemen. Die Einführung einer Aktienrente als private Altersvorsorge will er auch unbedingt noch durchsetzen. Es wäre etwas, was bleibt – die Lindner- statt der Riester-Rente. Bis zum Bundestagsbeschluss dürfte die FDP mindestens durchhalten. Der stehe kurz bevor, versichert Lindner am Dienstag in einem Bürgerdialog in Köln und preist die Vorzüge in kölschem Singsang: „Dat können Sie mir aber glauben, dat dat stimmt.“

Was soll man glauben, wie die FDP weitermacht, in der oder ohne die Ampel? „Das wird er entscheiden und uns dann vorlegen müssen“, sagt ein FDP-Vorstandsmitglied auf die Frage nach der Fortsetzung der Koalition einigermaßen schicksalsergeben.

Dass alles – oder zumindest viel – an Lindner hängt, wenigstens darüber sind sich die Ampelpartner also offenbar einig.

Beim Bundeskongress der Jungen Liberalen scheitert Mitte Oktober eine Initiative, die sich zum Aufstand gegen Lindner hätte ausweiten können. Ein Abwahlantrag der Landesverbände Berlin und Sachsen gegen den vom Parteichef installierten Generalsekretär Djir-Sarai wird deutlich abgelehnt.

Zurück im Reichstag haben sich die Männer zu den Mikrofonen durchgekämpft. Zunächst spricht der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger. Er fordert, die Koalition müsse zusammenarbeiten, um das Wachstum nicht zu behindern. Es habe jetzt ausreichend politischen Schaulauf gegeben. „Regierungsverantwortung heißt aus unserer Sicht auch Regierungsverpflichtung.“

Lindner verfolgt das Statement fast regungslos. Nur seine Backenknochen mahlen, er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. Das mit der Regierungsverpflichtung sehe er genauso, sagt er dann. „Für Deutschland ist es allemal besser, wenn eine Regierung eine gemeinsame Linie findet.“

Am Freitag macht ein 18-seitiges Papier Lindners zur Wirtschaftspolitik die Runde, in dem er unter anderem das Tariftreuegesetz in Frage stellt, ein zentrales Projekt der SPD. 1982 hatte die FDP mit einem Wirtschaftspapier die sozialliberale Regierung gesprengt. Linder hat dies wiederholt als mutig bezeichnet.