Rhede – Das schwarz-weiß Bild stammt aus dem Jahr 1987. Es zeigt die C-Jugend der Handballmannschaft des TV Rhede. In der hinteren Reihe, Dritter von rechts, steht ein junger Mann, der schüchtern in die Kamera blickt. „Er war zuverlässig, bissig und ehrgeizig sowie sehr mannschaftsdienlich“, erinnert sich Trainer Manfred Gasterstädt an den Spieler, den sie damals Henne nannten. Eigenschaften, mit denen der Schlacks es abseits des Sports noch weit bringen sollte. Henne war der Spitzname von Hendrik Wüst. Am Mittwoch wurde der heute 46-Jährige zum Ministerpräsidenten von NRW gewählt.
Bisher war Simon Terodde, der Ex-Torjäger des 1. FC Köln, der zumindest im Rheinland wohl bekannteste Rheder, oder besser Rhedenser, wie die Einwohner der westfälischen Gemeinde in der Region genannt werden. Rhede, die 20 000-Einwohner kleine Stadt - im Münsterland verkehrsgünstig gelegen an der B67 zwischen Bocholt und Borken - ist nun stolz auf einen weiteren berühmten Sohn. Hendrik Wüst wurde im Landtag zum Nachfolger von Armin Laschet als Ministerpräsident gewählt. Ohne die Hartnäckigkeit, die er schon als junger Handballspieler an den Tag gelegt hatte, wäre er wohl nicht ans Ziel gekommen.
In Wüsts Heimstadt ist die Welt für die CDU noch in Ordnung. Im Stadtrat holen die Christdemokraten zuverlässig zwischen 40 und 55 Prozent der Stimmen. Sonntags läutet die Pfarrkirche St. Gudula die Menschen in den Tag, danach lockt der Prinzenbusch zum Lustwandeln, das Schloss Salm zum Bewundern. Konservativ. Ländlich. Hier also begann am 19. Juli 1975 die Geschichte des Mannes, der jetzt auf dem Chefsessel der Düsseldorfer Staatskanzlei Platz genommen hat.
Mit dem TV Rhede hat es der damals 14 Jahre alte Wüst immerhin zum Kreismeister mit der Handball-C-Jugend geschafft. An überragendes Talent kann sich der Trainer Manfred Gasterstädt im Rückblick nicht erinnern. „Das würde er von sich auch nie behaupten“, sagt der 70-Jährige, der den Verein vor 50 Jahren gründete. „An seinen ausgeprägten Humor kann ich mich gut erinnern“, sagt der frühere Handball-Coach.
Hennes' einziger Treffer in der Oberliga
Wüsts damaliger Mannschaftskollege Torsten Wübling erinnert sich an eine legendäre Feier nach dem Schlusspfiff als Henne gegen Tusem Essen sein erstes und einziges Tor in der Oberliga gelang. „Dieser Treffer wurde von der gesamten Mannschaft frenetisch gefeiert und alles andere war nebensächlich - die Niederlage mit 15 Toren Unterschied zum Beispiel.“
Jürgen Bernsmann ist der parteilose Bürgermeister von Rhede. Hendrik Wüst hat ihn vor seiner Wahl im Jahr 2015 unterstützt. Die beiden Männer kennen sich seit ihrer Kindheit, die Väter waren Jagdkameraden. „Ich habe Hendrik beim Neujahrsempfang der CDU im Jahr 2018 prophezeit, dass er zu Höherem berufen sein wird, wenn er das herausfordernde Amt des Verkehrsministers gut meistert“, erzählt Bernsmann.
Wüst habe immer auch die Erfordernisse des Klimawandels im Blick gehabt und dadurch gepunktet. Bernsmann glaubt: Wüst könnte ein Glücksfall sein für die CDU NRW und ihre Pläne für einen Generationenwechsel. „Jetzt hat er bis zum 15. Mai Zeit, sich zu profilieren, um dann die Landtagswahlen zu gewinnen“. Bernsmann ist zuversichtlich und versucht jetzt erstmal einen Termin für einen feierlichen Empfang in der Heimatstadt für Wüst zu organisieren. Der Eintrag ins Goldene Buch steht an.
Rhede - eine typische Stadt im Münsterland
Wer den Anfangsfaden Wüsts politischer Karriere sucht, landet im Hotel Restaurant Hungerkamp am Dännendiek 12. Heute Kegelbahn, Biergarten, Balkanküche. Damals bei Gründer Clemens Hungerkamp gab es westfälisches Essen, Säle zum Mieten für Taufen, Beerdigungen, Gründungsfeiern.
Es muss etwa zu der Zeit gewesen sein, als Wüst mit seinen Sportskameraden die Kreismeisterschaft holte, als er sich eine Aktentasche schnappte und zielorientiert zum Dännendiek stiefelte. Die Wirtstochter von damals erinnert sich: „Er war erst 14, hatte eine Aktentasche dabei und ein entschlossenes Auftreten. Der wusste damals schon genau, wo es hingehen sollte“, erzählt Verena Ratering, die mit Hendrik Wüsts beiden älteren Schwestern in der Katholischen Studierenden Jugend organisiert war.
Sein Abendziel war schnell erledigt: In wenigen Stunden hatte der Teenager den in Rhede noch fehlenden Ortsverband der Jungen Union gegründet. Angeblich erster politischer Impuls: Protest gegen die Einführung von Kopierkosten an seiner Schule.
Schülersprecher am Euregio-Gymnasium in Bocholt
Überhaupt: Auch an seiner Schule, dem Euregio-Gymnasium in Bocholt, versteckte der Heranwachsende seine Ambitionen als Schülersprecher nicht. Johannes Seggewiß, der heute in Porz lebt, war damals auf Lehrerseite für die Schülervertretung (SV) zuständig. Seggwiß beschreibt Wüst als „zielstrebig“ und „engagiert“.
„Er hat sich sehr für die Interessen der Schüler eingesetzt.“ Aber auch bei der Gegenseite, im Entscheidungsgremium Schulkonferenz, habe er sich „durch seine schon damals ausgeprägte Argumentationsfähigkeit“ ein gutes Standing erarbeitet.
Mit dem zweiten SV-Lehrer, der der SPD zugeneigt war, habe er sich schon damals regelmäßig einen politischen Schlagabtausch geliefert. Hier im Euregio-Gymnasium direkt am Bocholter Stadtwald, begann sie also. Die Ausbildung in westfälisch temperierter Rhetorik mit gelegentlich schnoddrigem Einschlag. Alles Fingerübungen für die spätere politische Karriere.
Der forsche Auftritt ließ Wüst schnell zum JU-Vorsitzenden von NRW aufsteigen. Der damalige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers berief ihn 2006 zum Generalsekretär. Ein Schritt, der für den Heißsporn vielleicht zu früh kam. Seine Angriffslust ließ Wüst am Ende straucheln. Affären, die er zu verantworten hatte, kosteten die CDU 2010 die sicher geglaubte Wiederwahl. Damals dachten viele, der gescheiterte Münsterländer würde sich vom Tiefschlag nicht mehr erholen. Doch Wüst blieb zäh. Und hielt sich solange politisch im Rückraum auf, bis die Narben verheilt waren.
Wiedererkannt nach vielen Jahren
Das Auf und Ab in seiner Karriere hat Wüst abgehärtet. In der CDU hat man Respekt davor, wie sich der neue Hoffnungsträger in den vergangen Jahren weiterentwickelt hat. Von dem „Haudrauf" von ein einst ist nicht mehr viel zu verspüren. Wüst gibt sich zugewandt und offen.
Seggewiß hat sich besonders gefreut, dass sich Wüst bei einem zufälligen Wiedersehen in Porz noch an seinen Namen erinnern konnte. Wüst höflich: „Guten Tag, Herr Seggewiß“. Auch seinen Handball-Trainer hat Wüst nicht vergessen. In einem Grußwort an den alten Verein schrieb er im April vergangenen Jahres ein wenig schwülstig: „In diesen Tagen muss ich teilweise alleine, teilweise im Kabinett sehr schwerwiegende Entscheidungen treffen. Meistens bleibt dafür nur wenig Zeit." Dann würde ihm der „Kompass" helfen, der in früher Jugend angelegt worden sei: „Grundwerte, eine gewisse Distanz zu sich selbst und das Bewusstsein für die große Verantwortung."
Die hat der Mann, der in seiner Abizeitung von seinen Mitschülern als „schwarze Socke" veralbert wurde, jetzt übernommen.