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Kommentar zu KoalitionsvertragFür Schwarz-Grün in NRW gibt es keine Schonfrist

Lesezeit 4 Minuten
Neubaur Wüst zugewandt 230622

Partner in Nordrhein-Westfalen: Hendrik Wüst (CDU) und Mona Neubaur (Grüne)

  1. CDU und Grüne haben am Donnerstag ihren 146-seitigigen Koalitionsvertrag vorgestellt.
  2. Das Papier ist geprägt von den Krisen unserer Zeit – aber denkt viele Aspekte für Nordrhein-Westfalen neu.
  3. Der Kommentar zum schwarz-grünen Bündnis und der politischen Zukunft für NRW.

Vier Monate nach Beginn des Ukraine-Kriegs und der Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz im Bundestag erneut von einer Zeitenwende zu sprechen, mag ein gewagtes Unterfangen sein. Was könnte die politische Ordnung in Europa und die Lebensverhältnisse der Menschen auf vergleichbar einschneidende Weise verändern wie Russlands Überfall auf sein Nachbarland?

Das schwarz-grüne Bündnis in Nordrhein-Westfalen hat mit seinem Koalitionsvertrag für die nächsten fünf Jahre mindestens Teil an der Zeitenwende. Die künftige Regierung unter Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) muss auf Landesebene mit den Kriegsfolgen umgehen, die den Alltag der Bürgerinnen und Bürger schon jetzt spürbar beeinflussen.

Koalitionsvertrag geprägt von Einflüssen des Kriegs in der Ukraine

Das ist mit vielen Unwägbarkeiten verbunden: Energieversorgung, Rohstofflieferungen, Inflation, Verbraucherpreise, Exportwirtschaft – jeder dieser Bereiche hat unmittelbaren Einfluss auf die Vorhaben der schwarz-grünen Koalition und kann die Nadel auf dem im Koalitionsvertrag behaupteten „klaren Kompass“ gehörig zum Tanzen bringen.

Diese Sorge schlägt sich unverkennbar auch in dem 146-Seiten-Papier nieder. Die gelegentlichen Hinweise auf den Ukraine-Krieg mit ungewissem Ausgang sollten weniger als Situationsbeschreibung gelesen werden denn als ein „Disclaimer“, ein Generalvorbehalt im schwarz-grünen Vertragstext: An den Realitäten könnten so manche schönen Absichten der Koalitionäre sehr rasch scheitern.

Den gesamten Koalitionsvertrag hier herunterladen.

Am deutlichsten ist das beim Kohleausstieg, für den sich Schwarz-Grün sehr klar auf das Jahr 2030 festlegt. Dabei lassen die aktuellen Notfallpläne von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ahnen, dass diese Seite im Koalitionsvertrag schnell Makulatur sein könnte.

Wüst lenkt bei grünen Energie-Plänen ein

Trotzdem geht gerade von dieser Passage ein wichtiges Signal aus: Die neue Koalition – meint es ernst mit der Energiewende. Wüsts CDU ist hier sogar auf die Grünen-Forderung eingeschwenkt, auf den Dächern sämtlicher Neubauten im Land Photovoltaik-Anlagen zu installieren, auch wenn das für private Gebäude erst ab 2025 gelten soll.

Auch wenn der politische und gesellschaftliche Fokus derzeit zentral auf den Krieg als kontinentale Krise mit globaler Ausstrahlung gerichtet ist, muss die neue Regierung die anderen großen Herausforderungen unserer Zeit im Blick behalten: Energie- und Verkehrswende sind für den Umwelt- und Klimaschutz und damit für die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen essenziell. Daran ist in diesen Tagen – ein Jahr nach der Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz – besonders zu erinnern.

Wie gut die neue Regierung in vorausschauendem Handeln ist, wie gut auch die verschiedenen, nach der jetzt gültigen Farbenlehre neu zu besetzenden Ministerien harmonieren – das wird sich sehr schnell und offensichtlich an den Planungen für eine etwaige Herbst- oder Winterwelle der Corona-Pandemie erweisen. Schon jetzt, am Beginn des Sommers, ist klar, dass es keine Anlaufphase und keine 100-Tage-Schonfrist geben kann. Würde diese Zeit verschlafen, wäre die nächste Katastrophe womöglich schon da – und das Erwachen böse. Nicht nur für die politisch Handelnden, sondern vor allem für die Menschen im Land.

Premiere für Schwarz-Grün in NRW

Politisch darf der Antritt von Schwarz-Grün sehr wohl als eine Zeitenwende im Kleinen gelten. Auf Landesebene gab es dieses Parteienbündnis noch nie. Es hat eigenen Charme in einem Bundesland, das von seiner Gründung her auf eine symbiotische Verbindung von Gegensätzlichem angelegt ist: Metropolregionen und ländliche Gebiete, traditionelle Arbeiterhochburgen und klassisch-bürgerliche Lebensräume, Industrie und Agrarwirtschaft – und alles unter den Bedingungen eines rasanten Strukturwandels und gesellschaftlicher Diversifizierung.

Als Parteien sind CDU und Grüne, die in ihrem Koalitionsvertrag selbst den „Gründergeist“ und die „Vielfalt“ der Menschen in NRW als Kraftquelle für die Zukunft beschwören, nicht ausgenommen. Als Zukunftsbündnis für die Erneuerung des Landes können sie nicht in ihren vermeintlichen Komfortzonen verharren, dürfen keine Politik für ihre traditionellen Milieus oder Stammwählerschaft machen. Wenn der vielstrapazierte und inzwischen immer diffusere Begriff der „Volkspartei“ noch einen Sinn haben soll, dann diesen.

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Hendrik Wüst für die Union und Mona Neubaur für die Grünen haben sich direkt nach der Landtagswahl auf einen angenehm anderen Politikstil verständigt – nicht mit vollmundigen Deklarationen, sondern mit ihrem Alltagshandeln. Die Koalitionsgespräche haben sie als Verhandlungsführer geräuschlos, effizient, lösungsorientiert geführt und dabei auch ihre Parteien eingefangen. Es gab keine schräge Begleitmusik aus der Kulisse, keine hässlichen Töne. Das lässt hoffen.

Und es passt ins Bild, dass beide Seiten ihre Ministerinnen und Minister erst nächste Woche benennen wollen: Erst die Sache, dann die Personen. Andererseits hängt von der Kompetenz des Spitzenpersonals immer auch ab, was eine Regierung leistet und wie erfolgreich sie ist. Deshalb ist die Kabinettsliste ein mindestens so spannendes Dokument wie der Koalitionsvertrag.