Kolumne zu AfghanistanGeheimdienst sucht den falschen Schuldigen
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Köln – An diesem Mittwoch gibt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Lage in Afghanistan eine Regierungserklärung ab. In einer Sondersitzung will das Parlament sodann über das Mandat für den vom Kabinett bereits vor einer Woche verabschiedeten Evakuierungseinsatz der Bundeswehr beraten und beschließen.
Die Opposition wirft der Bundesregierung vor, die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt und eine rechtzeitige Rettung deutscher Staatsangehöriger und schutzbedürftiger Ortskräfte versäumt zu haben. Dies weisen die Kanzlerin sowie Außenminister Heiko Maas (SPD), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) in seltener Einmütigkeit zurück. Für das Desaster machen sie den Bundesnachrichtendienst (BND) verantwortlich. Dessen Lageeinschätzung sei falsch gewesen.
BND weist Verantwortung zurück
BND-Präsident Bruno Kahl räumt ein, dass sich sein Auslandsgeheimdienst über das Tempo der Machtübernahme durch die Taliban getäuscht hat. Sein Vorgänger Gerhard Schindler weist jedoch jegliche direkte Verantwortung des BND für den Irrtum zurück. Schuld daran seien vielmehr rechtliche Beschränkungen, die ihn daran hinderten, „wertvolle Ergebnisse zu liefern“.
So dürfe der BND zum Beispiel keinen angeworbenen Informanten mehr in eine Terrororganisation einschleusen, weil er sich dann „nach unserem Rechtssystem wegen Anstiftung oder Beihilfe strafbar“ mache.
Urteil des Verfassungsgerichts
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020 gelte im Übrigen der in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Schutz des Fernmeldegeheimnisses auch für ausländische Terroristen in Afghanistan. Man müsse schon eine dezidierte Verdachtslage vorlegen, um diese Leute abhören zu dürfen.
Auslandsnachrichtendienste arbeiteten insbesondere in der Vorfeldaufklärung, um potenzielle Bedrohungen einschätzen zu können. Dazu brauche es technische Überwachung. Mit dem Lesen ausländischer Zeitungen sei es nicht getan. Analysen, die auf einer schmalen Beschaffungsbasis beruhten, könnten nicht immer „punktgenau“ sein. Wenn man keine eigenen wertigen Informationen beschaffen dürfe, sei man umso mehr auf die Auswertungen anderer Dienst wie die der US-Dienste angewiesen. Was dabei herauskomme, sehe man ja gerade.
Schindler liegt genauso falsch wie der BND
Mit diesen Ausführungen liegt Schindler meines Erachtens ebenso falsch wie der BND mit seiner Lageeinschätzung. Anders als Schindler behauptet, hat das erwähnte Urteil einer genauen Analyse der Lage in Afghanistan keineswegs entgegengestanden.
Karlsruhe lässt keinen Zweifel an der zentralen Aufgabe des BND, Erkenntnisse über das Ausland zu gewinnen, die von außen- oder sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind. Es stellt auch nicht in Abrede, dass zur Erfüllung dieser Aufgabe insbesondere die strategische Auslandsfernmeldeaufklärung zur Erfassung von E-Mails und sonstiger elektronischer Kommunikation eine unverzichtbare Rolle spielt und aus dem Handlungsspektrum nachrichtendienstlicher Arbeit nicht wegzudenken ist.
Wichtiges Instrument
Karlsruhe erkennt vielmehr an, dass die Auslandsfernmeldeaufklärung ein besonders hohes Maß an Aktualität und Authentizität bei der Informationsbeschaffung aufweist und deshalb für die Erfüllung des gesetzlichen BND-Auftrags und für die Qualität seiner Arbeit essenziell ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit anderen Worten der Arbeit des BND keine Steine in den Weg gelegt. Soweit das Gericht erstmals in seiner Geschichte eine Verpflichtung der deutschen Staatsgewalt zur Wahrung von Grundrechten auch gegenüber Ausländern im Ausland festgestellt hat, haben ihm dabei zweifellos nicht die Angehörigen einer islamistischen Terrororganisation wie die Taliban als schutzwürdig vor Augen gestanden.
Schutz der Vertraulichkeit
Bei der geforderten Wahrung von Grundrechten ging es den Karlsruher Richtern vielmehr darum, Journalisten, Rechtsanwälte oder Geistliche vor Ausspähung zu schützen, Personen also, in deren beruflicher Kommunikation es ganz besonders auf Vertraulichkeit ankommt.
Diesem zentralen Anliegen trägt nunmehr auch die Neufassung des BND-Gesetzes vom 19. April Rechnung. Sie sieht im Übrigen – ebenso wie das alte BND-Gesetz von 1990 – den Einsatz von Vertrauensleuten in kriminellen und terroristischen Organisationen vor, auch wenn solche Einsätze im Einzelfall für die V-Leute mit dem Risiko verbunden sind, sich selbst strafbar zu machen.
Man kann nur hoffen, dass die Kanzlerin der Versuchung widersteht, in ihrer Regierungserklärung das Hin- und Hergeschiebe von Verantwortung fortzusetzen. Die Bundesregierung müsste – wie auch der BND – bereit sein, ihren ureigenen Anteil am Desaster in Afghanistan in den Blick zu nehmen und offen anzusprechen. Wie der Ex-BND-Chef die Schuld am Ende in Karlsruhe abzuladen, setzt nur eigenes Versagen fort.
Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW. Er schreibt auf ksta.de über aktuelle Streitfälle sowie rechtspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen.